Die Hüterin des Schattenbergs
Seitwärts gehend tastete sie sich langsam Stufe um Stufe hinunter.
»Vor den Drachenreitern.«
Jemina wollte noch etwas sagen, aber sie war zu weit entfernt, um noch leise mit Rik sprechen zu können. Dann erinnerte sie sich: A uf dem Hinweg zur Hohen Feste hatte Salvias sie schon einmal gebeten, sich dicht an der W and zu halten. »Einige der Stufen sind beschädigt«, hatte er gesagt. »Und endlich wusste sie, was Rik im Sinn hatte. Sie hatte den Gedanken gerade zu Ende geführt, da hörte sie Rik auch schon fest mit dem Fuß aufstampfen.
Einmal … zweimal … dreimal.
Sicherheitshalber wich sie noch ein paar Stufen zurück. Sie betete darum, dass Rik wusste, was er tat. Dann hörte sie ihn im Halbdunkel erneut kraftvoll aufstampfen.
Einmal … zweimal … dreimal.
Er keuchte vor A nstrengung, aber er gab nicht auf, sondern versuchte es gleich wieder. Jemina hielt den A tem an und lauschte. Beim vierten Mal war ein Knirschen zu hören, und nur wenige A temzüge später das Geräusch von Steinen, die weit unter ihr auf den Boden prallten.
»Rik!«, rief Jemina erschrocken. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja!«, kam die A ntwort von oben. »Ich bin ausgerutscht, aber es ist nichts passiert!«
»Wie schade, das hätte uns eine Menge A rbeit erspart.« Salvias’ Lachen wirkte in dem Schacht noch unheimlicher. Es hallte so laut von den Schachtwänden wider, dass es sogar Riks Stampfen übertönte. Diesmal fielen keine Steine in die T iefe und Jemina hörte, wie Rik einen leisen Fluch ausstieß.
»Komm jetzt Rik«, rief sie ihm in der Hoffnung zu, nicht zu viel zu verraten. »So geht das nicht.«
Statt eine A ntwort zu geben, stampfte Rik wieder dreimal auf und diesmal schien sich ein großer Brocken zu lösen, der am Grund des Schachts mit einem lauten Krachen zerbarst.
»Rik?«
»Geh weiter Jemina! W arte nicht auf mich!«
»Aber auf uns darfst du gern warten!« Salvias und sein Begleiter lachten, als hätte Salvias einen Scherz gemacht. Nur noch wenige Stufen trennten sie jetzt noch von Rik.
»Rik, komm!« Jemina war starr vor A ngst. Rik setzte alles auf eine Karte – auch wenn es ihn das Leben kosten konnte. W ie leicht konnten die fallenden Steinstufen ihm dem Boden unter den Füßen wegreißen. W ie leicht konnte er den Halt verlieren …
»Geh, Jemina!«
»Nein!« Jemina war entschlossen zu warten. Rik hatte ihr mehrfach das Leben gerettet. Sie würde ihn nicht im Stich lassen. W ieder hörte sie ihn stampfen.
Einmal … zweimal … dreimal.
Wütend, entschlossen und mit der Gewissheit des T odes im Nacken. A uch diesmal lösten sich große Brocken, aber es waren nur wenige, viel zu wenige, um ein unüberwindliches Loch in die T reppe zu reißen.
»Bei den Göttern, er versucht, die T reppe zu zerstören!« Jemina hörte Salvias fluchen. »Schnell, wir müssen ihn aufhalten!«
»Rik!«
Keine A ntwort. Nur keuchende A temzüge und wieder stampfende T ritte.
Einmal … zweimal …
In der Dunkelheit ertönte ein Knirschen und Knacken, das Jemina durch Mark und Bein ging. Rik gab einen erstickten Laut von sich. Dann herrschte für endlose Augenblicke Stille. Nichts, nicht ein einziger A temzug war zu hören, bis ein gewaltiger Donnerschlag die Stille zerriss. Die T reppe bebte und Jemina suchte mit der freien Hand Halt an der W and. Ein gewaltiges Stück Felsen musste in den A bgrund gefallen sein.
»Rik?«
Keine A ntwort. Nicht das kleinste Geräusch ließ darauf schließen, dass Rik noch in der Nähe war. Bei den Göttern! Jemina hatte das Gefühl, als würde sich ein eiserner Ring um ihre Brust legen. V orsichtig, die Fackel suchend vorgestreckt, wie sie es bei Rik gesehen hatte, ging sie ein paar Schritte nach oben und fand sich nach nur vier Stufen am Rande eines gähnenden A bgrunds wieder. Die T reppe war fort. »Rik?« Rik antwortete nicht. Jemina schossen die T ränen in den A ugen. »Rik, wo bist du?« A ngesichts der furchtbaren Zerstörung, konnte es darauf nur eine A ntwort geben – er war tot.
3
H ilf … mir …!«
Rik! Das war Riks Stimme. Jeminas Herz machte vor Freude einen Sprung. »Rik? Rik wo bist du?« Hektisch leuchtete sie mit der Fackel an der A bbruchkante entlang. Dann entdeckte sie ihn. W as sie sah, jagte ihr einen eisigen Schrecken durch die Glieder: Rik hing direkt über dem A bgrund, dort, wo die T reppe zusammengebrochen war. Nur seine Hände, mit denen er sich verzweifelt an ein kleines, senkrecht stehendes Stück der zerstörten T reppe klammerte,
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