Die Hüterin des Schattenbergs
Fackel auftauchte.
»Schneller!« Rik schien ähnliche Gedanken zu hegen.
»Ich kann nicht.« Jemina schnappte nach Luft.
»Wir sind gleich bei der Luke. V ielleicht können wir sie mit etwas versperren und Salvias aufhalten.«
Jemina sagte nichts. Soweit sie sich erinnern konnte, gab es am Grund dieses ersten T reppenabschnitts nur loses Geröll und Steine. Nichts, womit man den schmalen Durchlass hätte verschließen können.
»Da unten sind sie!«
Salvias! Jemina zuckte zusammen, als sei sie geschlagen worden. Furchtsam schaute sie sich um, stolperte und wäre gefallen, wenn Rik sie nicht aufgefangen hätte. »Vorsicht«, mahnte er sanft. Sein A tem streifte ihre W ange.
Jemina nickte. V erwirrt von den Gefühlen, die in völliger Missachtung der lebensgefährlichen Lage urplötzlich auf sie einstürmten.
Rik!
Noch nie hatte sie ihn auf diese W eise gespürt … so stark, so entschlossen, so mutig. Für eine kleine Ewigkeit, so schien es, trafen sich ihre Blicke. Die Zeit gehörte ihnen, bis Rik sich einen Ruck gab, sich räusperte und sie mit den W orten: »Geht es wieder?«, fast ein wenig beschämt freigab.
»Ja. Danke.« Jemina ärgerte sich, weil ihre Stimme so heiser klang. Rik war ein Freund. Nur ein Freund. Bald würden sie beide Hüter sein. Gefährten im fortwährenden Kampf gegen die Bedrohung durch die Schatten. Mehr konnte, mehr durfte es unter den Hütern nicht geben, so hatte Orekh es bestimmt.
Jemina straffte sich. A m oberen Ende der T reppe machte sie den Lichtschein zweier Fackeln aus, die sich schnell, mit hüpfenden A uf-und-ab-Bewegungen näherten. »Wie weit ist es noch?«, fragte sie, als hätte es den kleinen Moment der V ertrautheit nie gegeben.
»Ich weiß es nicht.« Rik räusperte sich erneut. Seine Stimme klang ungewohnt hölzern. »Aber es kann nicht mehr weit sein! Komm.« Er fasste sie wieder an der Hand und rannte los.
»Ja, rennt nur! Ihr entkommt uns nicht!«, rief Salvias ihnen von oben hinterher. »Die Ratten werden sich freuen, wenn eure Körper zerschmettert am Boden des Schachts liegen.« Er lachte und seine Stimme hallte unheilvoll von den W änden wider.
»Hör nicht hin!«, raunte Rik Jemina zu und umfasste ihre Hand noch ein wenig fester. »Noch haben sie uns nicht.«
Zwanzig Stufen später war die T reppe zu Ende und sie standen auf festem Boden. Sicher fühlte Jemina sich trotzdem nicht. Unter dem Gestein zu ihren Füßen wartete ein senkrechter Schlot von fast einhundert Metern auf sie. Ungeduldig und voller Sorge beobachtete sie, wie Rik mit gesenkter Fackel kreuz und quer über die Plattform ging und den Boden absuchte.
»Hier wirst du nichts finden«, raunte sie ihm zu und fügte nach einem prüfenden Blick den Schacht hinauf hinzu: »Lass uns weitergehen. Salvias holt auf. W ir müssen uns beeilen.«
Nun schaute auch Rik auf. Ein kurzes Zögern, dann nickte er. »Du hast recht. Hier gibt es nichts, das wir zum A bsperren des Durchgangs verwenden könnten.« Er eilte zum Durchlass und setzte sich. Seine Füße ruhten auf den ersten T reppenstufen des gefährlichen W egabschnitts. »Sei vorsichtig«, mahnte er. »Diesmal werde ich dich nicht festhalten können.«
»Ich schaffe das schon!« Jemina bemühte sich, zuversichtlich zu klingen. »Und jetzt beeile dich, sonst holen sie uns noch ein.«
Auf der T reppe unterhalb des Durchgangs kamen sie wesentlich langsamer voran als zuvor. Das W issen um den A bgrund zu ihrer Rechten ließ Jemina jeden Schritt mit doppelter V orsicht tun und auch Rik ging erheblich langsamer. V iel zu früh erschien das Licht der Fackeln ihrer V erfolger über ihnen im Durchlass. A ber statt die Schritte zu beschleunigen, wurde Rik immer langsamer. »Was ist los?«, fragte Jemina ungeduldig. »Kannst du nicht mehr?«
»Doch!« W ie schon am Durchlass, führte Rik die Fackel auch hier wieder dicht über den Boden. »Ich suche Risse.« Rik sprach so leise, das Jemina ihn nur schwer verstehen konnte. »Warum?«
»Ich will versuchen … a h, hier ist es.« Rik fuhr mit der Fackel dicht an einem Riss im Boden entlang.
Jemina hatte keine A hnung, was Rik vorhatte, aber für lange Erklärungen fehlte die Zeit. »Salvias holt auf«, drängte sie. »Wir müssen weiter.«
»Geh du vor«, sagte Rik bestimmt. »Bleib ganz dicht an der W and und nimm die hier mit.« Er reichte Jemina die Fackel. »Nach acht Stufen müsstest du in Sicherheit sein.«
»In Sicherheit? W ovor?« Jemina stand schon mit dem Rücken zur W and.
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