Die Huette
Andachten seiner Kindheit stiegen in ihm hoch, und das waren keine erfreulichen Erinnerungen. Oft war es eine zähe, langweilige Übung darin gewesen, die richtigen Antworten parat zu haben, immer die gleichen alten Antworten zu den gleichen alten Bibelfragen, gefolgt von der Qual, während der endlosen Gebete des Vaters wach bleiben zu müssen. Und wenn sein Vater getrunken hatte, verwandelten die Familienandachten sich in ein schreckliches Minenfeld, wo jede falsche Antwort, jeder unaufmerksame Blick eine Explosion auslösen konnte. Halb erwartete Mack, Jesus würde eine alte King-James-Bibel hervorholen.
Stattdessen streckte Jesus die Hände aus und nahm Papas Hände in seine, und auch auf den Handgelenken Jesu waren die Narben nun deutlich sichtbar. Gebannt sah Mack zu, wie Jesus die Hände seines Vaters küsste, ihm tief in die Augen schaute und schließlich sagte: »Papa, ich fand es wundervoll, dir heute zuzusehen, wie du dich vollkommen geöffnet hast, um Macks Schmerz in dich aufzunehmen, und ihm dann einfühlsam die Zeit gegeben hast, die er brauchte. Damit hast du ihm Ehre erwiesen, und mir. Es war wirklich unglaublich, dir zuhören zu dürfen, wie du Liebe und Frieden in sein Herz hineingeflüstert hast. Das mitzuerleben war wirklich eine Freude! Ich liebe es, dein Sohn zu sein.«
Mack kam sich vor wie ein Eindringling, doch den dreien schien das nichts auszumachen, und er hatte auch keine Idee, wohin er hätte gehen können. Sich in der Gegenwart einer solchen Liebe aufzuhalten schien bei ihm eine innere emotionale Blockade aufzulösen. Zwar verstand er nicht genau, was er fühlte - aber es fühlte sich gut an! Und wovon wurde er Zeuge? Von etwas Einfachem, Warmherzigem, Intimem, Aufrichtigem. Das war heilig.
Für Mack war Heiligkeit immer ein kaltes und steriles Konzept gewesen, aber das hier war ganz anders. Aus Sorge, die leiseste Bewegung seinerseits könnte den Moment zerstören, schloss er einfach die Augen und faltete die Hände. Er lauschte intensiv mit geschlossenen Augen und hörte, wie Jesus seinen Stuhl abrückte. Nach kurzer Stille sagte Jesus leise und sanft: »Sarayu, du spülst, ich trockne ab.«
Mack riss die Augen genau zur rechten Zeit auf, um zu sehen, wie die beiden einander strahlend anlächelten und dann das Geschirr abräumten und in die Küche trugen. Mack blieb für ein paar Minuten sitzen und wusste nicht recht, was er tun sollte. Papa war ebenfalls verschwunden, und da die beiden anderen den Abwasch erledigten ... nun, da fiel ihm die Entscheidung leicht. Er nahm Bestecke und Gläser und ging in die Küche. Als er sie Sarayu zum Spülen hingestellt hatte, warf Jesus ihm ein Küchenhandtuch zu und sie trockneten zusammen Geschirr ab.
Sarayu summte die gleiche bewegende Melodie, die Mack zuvor schon bei Papa gehört hatte, und Jesus und er lauschten einfach, während sie arbeiteten. Die Melodie berührte ihn zutiefst. Sie klang gälisch, und fast war ihm, als höre er Dudelsäcke im Hintergrund. Aber so schwer es Mack auch fiel, nicht aus der Küche zu flüchten und die Gefühle zu ertragen, die in ihm geweckt wurden, war er von der Melodie doch völlig hingerissen. Hätte er dabei nur immer Sarayus Stimme lauschen können, wäre er sehr gern bereit gewesen, den Rest seines Lebens Geschirr abzutrocknen.
Etwa zehn Minuten später war der Abwasch erledigt. Jesus küsste Sarayu auf die Wange. Dann verließ die asiatisch aussehende Frau die Küche. Jesus lächelte Mack an. »Gehen wir nach draußen auf den Bootssteg und schauen uns die Sterne an.«
»Was ist mit den anderen?«, fragte Mack.
»Ich bin hier«, erwiderte Jesus. »Ich bin immer hier.«
Mack nickte. Diese Sache mit der Gottesgegenwart war zwar schwer zu begreifen, drang jedoch unter Umgehung seines Verstandes immer tiefer in sein Herz. Er beschloss, es einfach zu akzeptieren, ohne weiter darüber nachzudenken.
»Komm schon«, unterbrach Jesus seine Überlegungen. »Ich weiß, wie gerne du dir Sterne anschaust! Möchtest du?« Jetzt klang er wie ein aufgeregtes, von Vorfreude erfülltes Kind.
»Ja, ich glaube schon«, antwortete Mack und wurde sich bewusst, dass er das zum letzten Mal auf jenem unglückseligen Campingausflug mit den Kindern getan hatte. Vielleicht war es an der Zeit, ein paar Risiken einzugehen.
Er folgte Jesus durch die Hintertür. Im letzten Abendlicht konnte Mack gerade noch das steinige Seeufer ausmachen, das aber nicht mehr, wie in seiner Erinnerung, von Dickicht überwuchert, sondern
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