Die Hure: Roman (German Edition)
Sonne. »Ich ertrage sie nicht, sie sticht mir in die Augen und macht mir Angst«, jammerte die Frau.
Der Schöpfer hätte seinem Geschöpf gern einen Gefallen getan, doch alle anderen Wesen auf der Welt, mit Ausnahme des Raben, weigerten sich, eine ewige Nacht zu akzeptieren. So stand der Schöpfer vor einem kniffligen Problem. Schließlich fragte er den Raben, was er tun solle. Der Vogel schlug ihm vor, einen unterirdischen Ort zu schaffen, an den nie Licht drang.
Der Schöpfer schritt zur Tat, und bevor es Abend wurde, war die neue unterirdische Welt fertig. Die Frau betrachtete sie begeistert; sie würde diese Welt ganz für sich allein besitzen. Na schön, zusammen mit dem Raben, aber immerhin.
»Ich nenne diesen Ort Irkalla«, sagte die Frau. »Und mich kannst du von nun an Ere š kigal nennen.«
»Ein schwieriger Name«, stellte der Schöpfer fest.
»Ja, aber ich mag ihn«, sagte die Frau.
Ereškigal und der Rabe zogen nach Irkalla. Von dort kamen sie des Nachts auf die Erde, um zu tanzen und zu singen und das Geschlecht der Raben sowie das der Menschen zu gründen.
Der Schöpfer bat die Schwarzdrossel, die Frau stets mit ihrem Gesang zu warnen, bevor die Sonne aufging, damit sie nicht versäumte, in ihr eigenes Reich zurückzukehren. Die Schwarzdrossel war furchtbar traurig, weil die Frau nicht bei ihr bleiben wollte. Noch heute zwitschert sie kurz vor Sonnenaufgang am allerschönsten, in der Hoffnung, dass Ereškigal eines Morgens lauschend verweilt, ihre Lichtscheu überwindet und auf der Erde bleibt.
9.
SOMETIMES I FEEL I’VE GOT TO RUN AWAY,
I’VE GOT TO GET AWAY FROM THE PAIN YOU DRIVE INTO THE HEART OF ME.
THE LOVE WE SHARE SEEMS TO GO NOWHERE.
AND I’VE LOST MY LIGHT – I CAN’T SLEEP AT NIGHT.
Kalla trifft eine Entscheidung:
Mit dem Leben als Prostituierte muss Schluss sein.
Auf dem Arbeitsamt.
Kalla zieht eine Wartenummer und setzt sich. Sie sitzt eine Weile da, bevor sie an ihren Mann denkt. Der Mann ist vor dem Nummernautoma ten stehen geblieben und drückt immer wieder auf die Taste. Kalla sammelt die überzähligen Zettelchen ein, legt sie oben auf den Automaten und führt ihren Mann zu der Bank. Mit ihrem von Lippenstift beschmier ten Taschentuch wischt sie ihm den Geifer aus den Mundwinkeln.
Ein stattlicher schwarzer Mann starrt Kalla an. Sie hüstelt und schlägt die Beine übereinander. Dann holt sie ein Buch aus der Handtasche und beginnt zu lesen.
Es fällt ihr schwer, sich auf das Buch zu konzentrieren. Sie hat Lust, mit dem Mann zu flirten. Schließlich blickt sie auf und lächelt ihn an. Da wird ihr klar, dass er nicht sie anstarrt, sondern ihren Gatten, der halb auf den Fußboden gerutscht ist. Während der nächsten halben Stunde hält sie die Augen auf das Buch geheftet und bemüht sich, unbeteiligt zu wirken. Aus den Augenwinkeln sieht sie, wie ein niedliches Amtsmädchen zu dem Mann geht und ihn küsst. Die beiden kichern und gehen hinaus, wobei sie darüber sprechen, wo sie zu Mittag essen wollen.
Dann kommt das niedliche Amtsmädchen vom Lunch zurück. Sie ruft die nächste Nummer auf.
»Ich bin dran«, sagt Kalla zu ihrem Gatten. »Bleib brav sitzen.«
Die Beamtin begrüßt sie sachlich und fragt nach Arbeitszeugnissen, Schulzeugnissen, Gesundheitszeugnissen. Sie betrachtet die Papiere eingehend, reicht Kalla dann das Abiturzeugnis zurück. »Damit lässt sich leider nichts anfangen«, sagt sie teilnahmsvoll und setzt die Überprüfung von Kallas Lebenslauf und Arbeitszeugnissen fort. »Tja, öh. Hier steht nicht, was du gemacht hast, nachdem du deine Stelle als Kellnerin verloren hast.«
»Na ja.«
»Es ist nämlich ein Manko, nichts getan zu haben.«
»Tja, also …« Kalla senkt die Stimme. »Ich war Prostituierte.«
»Prostituierte!«, ruft die Beamtin.
Alle Kunden im Arbeitsamt sehen auf. Dann beginnen sie zu tuscheln. »Teuer oder billig? Luxus oder Standard? Aus Estland oder Russland? Krank oder gesund?«
»Entschuldige. Es ist bloß, ich habe noch nie mit einer von euch zu tun gehabt. Hast du ein Arbeitszeugnis?«
»Ich habe privat gearbeitet.«
»Das ist doch illegal.«
»Anfangs war es das nicht.«
»Jaa. Also Hu…, ich meine Prostituierte, wie aufregend … Aber wenn ich dich jetzt so ansehe, na ja …«
Kalla sagt, sie habe auch andere Jobs gehabt.
»Ach ja?« Die Beamtin vertieft sich wieder in die Unterlagen.
Auf einem Papier mit dem Stempel des BBQ Inferno steht, dass Kalla eine unqualifizierte Kellnerin gewesen sei und die
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