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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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heißt Mädchen – durch das Schulfenster nachsieht.«
    Ich sehe ihnen nicht nach, sollte das damals heißen. Was
Vyfken auch überzeugte, die zur Riemännin sagte: »Der? Nee, der lernt nur. Der
denkt gar nicht dran!«
    Wenn sie
gewusst hätte, wie oft er dran dachte! Vyfken wusste auch nichts von den
Pausengesprächen, an denen er sich nie beteiligen konnte. Sie wusste auch
nichts von den Aufträgen, die immer nur er, nie ein anderer Schüler, bekam.
    »Valentin,
geh doch mal und sag der Frau Rektor…«
    »Valentin,
ich brauch wieder neue Haselruten.«
    »Valentin, du
hilfst mir nachher den Honig rühren.« Und ganz und gar nicht wusste Vyfken,
dass Liese Mahlers damals, bevor sie starb, und da musste sie also schon
schwanger gewesen sein, sich auch an ihn herangemacht hatte, im November, spät
nachmittags, als es schon dunkel war, und vor allem war es ziemlich kalt.
    Er war aus
der Schule gekommen und fror. Die zusammengeschnürten Bücher unter den Arm
geklemmt, die Hände in den Taschen, tief in seine Jacke verkrochen, hatte er
sie zuerst nicht gesehen. Es war auf der Nordseite der Kirche. Er wollte gerade
über die Breite Straße, als sie plötzlich neben ihm lief.
    »Na, Euer
Hochverfroren? Soll ich Euch wärmen?« Dabei hatte sie ihn mit der Hüfte
angestoßen und ihm die Hand in den Nacken gelegt und die Anrede »Euer
Hochverfroren« hatte ihn zum Lachen gereizt und der Stoß an seine Lenden und
die Hand in seinem Nacken und die Worte an seinem Ohr, »Keine Angst, du musst
nichts bezahlen«, hatten ihn zu anderem gereizt und er war weggelaufen, so
schnell es seine dicken Socken, mit denen er in den Pantinen rutschte,
erlaubten. Und ein paar Wochen später war Liese tot.
    Man fand sie
am Tag nach Neujahr. Sie lag erfroren in einem leeren Schweinestall in der
Gasse Achter der Mauer, nicht weit von ihren Stammkunden, den Hirten der Stadt
und den Gerbergesellen, entfernt.
    Das Kind
zwischen ihren Schenkeln, noch an der Nabelschnur hängend, war in einer
Blutlache festgefroren. Von den Männern, die die Leiche bergen mussten, kannte
jeder die Liese angeblich nur flüchtig.
    »Ein
christliches Begräbnis? Nein, Frau, das geht nicht.«
    Ihre
Schwester lief weinend den ganzen Tag vom Pfarrhaus zum Rathaus und wieder
zurück.
    »Ich sag Euch doch: Das geht
nicht.«
    Aber
irgendwann ging es dann doch. Am Rande des Friedhofs vorm Buchholzer Tor, dort,
wo der Durchgang zur Ziegelschneiderei ist, wurde die Liese mit ihrem Söhnchen
begraben. Und auch nicht, wie zuerst angeordnet worden war, sang- und klanglos,
sondern mit Glockenklang und mit Knabengesang. Zwar war es nur die kleinste der
Glocken, jene, die »Misericordias domini cantago« hieß, Ich will singen von
der Barmherzigkeit des Herrn, – und von der Barmherzigkeit des Herrn sang
auch nicht die gesamte Kurrende, sondern nur ein einziger Schüler, nur Valentin
Klein, doch sang er so gut er nur irgend konnte, keine Angst, du musst nichts
bezahlen, sang er viel mehr, als zwischen Kantor und Schwester vereinbart war,
sang er: »So wahr ich lebe, spricht dein Gott/mir ist nicht lieb des Sünders Tod.«
    Außer ihm
standen noch der Diakon, Lieses Schwester, deren Mann und drei Neffen und eine
Nichte der Toten am Grab, dazu eine Begine, die Liese Mahlers nicht kannte, die
aber zu jeder Beerdigung ging. Der Tag war frostklar. Es wehte ein scharfer
Ostwind, in dem der Hauch vor den Mündern in der Kälte zerging. Und Valentin
sang: »Gnad hat dir zugesaget Gott/von wegen Christi Blut und Tod.«
    Der Diakon,
der an ein Versehen glaubte, machte ihm ein Zeichen: Genug, Junge, kannst
aufhören. Die Männer zogen ihre Mäntel fester um sich, die Frauen ihre Tücher.
Die Kinder traten auf der Stelle. Und Valentin merkte diesmal nicht, wie sehr
er, trotz des schwarzen Chormantels über der Jacke, schon fror.
    Dass du
musst sterben ist dir kund/verborgen ist des Todes Stund.
    Wie nahe er
an den folgenden Tagen der eigenen Todesstunde gewesen war, erfuhr er erst
hinterher. Da saß er schon im Bett, aß Hühnersuppe und begann, sich Schritt für
Schritt zu erholen.
    Er habe
fantasiert, erfuhr er von Vyfken. Er habe tagelang in immer wieder
gewechselten, immer wieder schweißnassen Laken und Kissen gelegen, halb
aufgerichtet, um besser atmen zu können, und den Arzt, den Stadtphysikus, für
den Bürgermeister Magister Heinisch gehalten.
    Dass sie den Physikus geholt
hatte, war Stadtgespräch. Gabriel Schumacher! Den Studierten! Pritzwalks
teuersten Arzt in die Gasse Achter der

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