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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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Schauplatz.
     
     
    Natürlich
erinnerte Valentin sich. An seine Eltern zwar nicht mehr, über sie wusste er
nur, was ihm Vyfken erzählte. Aber er erinnerte sich an Wintermorgen im Bett,
oben in der Kammer, während er unten in der Kate Vyfken herumpoltern und den
Herd heizen hörte. Er erinnerte sich an einen Gang neben Vyfken durch nasses
Herbstlaub. Sie hatte etwas Schwarzes an und er hielt ihre Hand. Er erinnerte
sich an viele Weihnachtsabende, an denen sie durch die Kälte nach Hause gingen,
während man Weihnachtslieder vom Kirchturm blies, wonach sie dann einen
unerhörten Luxus genossen: Am Heiligen Abend gab es immer Ente!
    Und er erinnerte sich an
Nicht-mitspielen-Dürfen und Nicht-mitreden-Können, an einen hinterhältigen
Stoß, der ihn in die Dömnitz beförderte, und an Sprechchöre, die ihn
verfolgten: Veiten Kleen/hädd Schiet am Been. Er erinnerte sich an das
Wäscheaufhängen bei der Frau Kantor und an schmerzende Muskeln nach dem Rühren
von Honig. Er erinnerte sich daran, dass Vyfken seine Kleider öfter als üblich
wusch, man an ihm aber trotzdem noch die Gerberei zu riechen behauptete. Veiten
Kleen/hädd Schiet am Been, Valentin wusste, was er hinter sich lassen
wollte, als er Pritzwalk hinter sich ließ.
    Das war vor
drei Jahren, mit sechzehn, gewesen. Da war Vyfken neben ihm gelaufen wie jetzt.
Bis Giesensdorf, bis zu ihren Verwandten, hatte sie ihn begleitet. Sie hatten
ihm nachgewinkt, Vyfken, ihr Bruder, die Schwägerin, deren Kinder. Dann, nach
einer Wegbiegung, hatte er auch Giesensdorf hinter sich, das dem Rat der Stadt
Pritzwalk gehörte. Jetzt fängt ein neues Leben an, schwor er sich.
    Dabei: Die
Abschiedsrede des Pfarrherrn hätte ihn warnen können! Dass er seiner Vaterstadt
für das Stipendium zu danken habe. Dass er als Student fleißig zu sein,
ordentlich zu sein und sparsam zu sein habe. Dass er sich nicht beim Spazieren
gehen antreffen lassen solle, sondern eher bei einem ehrlichen Zuverdienst.
Dass man ihn auch in Leipzig im Auge behalten werde. Dass man sich das Recht
nehme, andere Studenten nach ihm zu befragen. Dass ihm das Stipendium auch
wieder genommen werden könne, wenn sich herausstelle, er habe mehr in
Mädchenaugen als in Mitschriften, mehr in Bierkrüge als in Bücher geblickt.
    Das alles
hatte er, als er damals loszog, vergessen. Zum ersten Mal Pritzwalk hinter sich
lassend. Zum ersten Mal in die Welt.
    Die Welt,
auch wenn sie in strahlender Sonne lag, war der Sommerweg nach Havelberg über
Klenzenhof, Reckenthin, Hoppenrade gewesen; waren gelb-weiß blühende
Wiesenraine und grünende Saat; waren Backöfen, Dorfteiche, zischende Gänse und
bellende Hunde. In der Welt gab es Scheißkerle wie jenen Aumühle. Am Dom in
Havelberg, hatte ihm der Pfarrherr gesagt, solle er nach einem Fuhrmann namens
Aumühle fragen. Aumühle werde ihn nach Dessau mitnehmen, wofür er ihm unterwegs
zur Hand gehen müsse.
    Aumühle saß
den ganzen Weg bis Dessau in den Schankräumen der Herbergen, während er ihm
»zur Hand ging«. Sich um die Pferde kümmern musste, die Ladung, den Wagen.
Während er in Scharlibbe neue Ringe für die hinteren Lissen besorgte, damit das
Seitenbrett wieder besseren Halt bekam, wobei er, wie in Hohengöhren, wo er,
Valentin, Wagenschmiere kaufen musste, das Geld, das er auslegte, ihm
wiederzugeben vergaß, vermutlich erkennend, dass Valentin noch zu schüchtern
war, es zu fordern.
    Das
Bewusstsein seiner Kenntnisse und Fähigkeiten war ihm damals ein Schutz. Die
abschätzigen Blicke der Wirte, die ihm Scheune oder Futterkammer als
Schlafplatz zuwiesen, prallten daran genauso ab wie die verächtliche Geste, mit
der Aumühle ihm beim Abschied den Ranzen zuwarf, oder die gleichgültigen
Gesichter aus den schnell an ihm vorüberfahrenden Wagen.
    Hinter
Delitzsch hielt dann doch einer an.
    Nicht ganz,
aber doch so, dass er hinten aufspringen konnte.
    Er kämpfte
sich zwischen blökenden Schafen nach vorn, um dem Mann auf dem Kutschbock zu
danken. »Von Dank hab ick schon ‘n ganzen Sack voll«, sagte der, aber rückte für
ihn auf dem Kutschbock zur Seite.
    »Wohin willst du denn
überhaupt?«
    »Nach
Leipzig.«
    »Und was bist
du für einer?«
    »Student.«
    Das
Bewusstsein dessen, was er für einer war, dass er es ihnen noch zeigen würde,
die ihn allesamt unterschätzten, ließ ihm beim Anblick der Großstadt das Herz
schneller schlagen. Mauern, Tore, Türme und Dächer, das war sie, die große
Stadt Leipzig, das war sie, die Welt.
    »Könnt Ihr
mir

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