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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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Mauer!
    Von ihren
Gebeten wusste er nichts. »Lieber Gott, nimm ihn mir nicht. Bitte, bitte, nimm
ihn mir nicht. Du hast doch schon Berend und meine fünf. Du hast doch schon
seine Eltern. Bitte, lass ihn noch leben!«
    Denn sie
liebte ihn doch so! Sie war doch auf ihn so unsagbar stolz!
    Zu den
alljährlichen öffentlichen Examen der Schüler kam sie rechtzeitig, setzte sich
ganz nach hinten und sah den Ankommenden, die sie im Stillen gönnerhaft
kommandierte, voller Vorfreude zu. Ja, setz dich man mit deinem Alten, Dies
zur Frau des Kaufmanns Ottlinger, die dreimal den Rock glattzog, bevor sie
neben ihrem Manne Platz nahm. Jaja, Küsschen rechts, tätscheln links, das
wird ihm nachher auch nicht viel helfen. Dies zur Bürgermeisterin Anna
Schaum, die ihren Heinrich verabschiedete, bevor sie ihn Richtung Podium schob.
Solcherart, stumm, wies sie Kaufleute, Ratsherren und deren Kinder zurecht. Ja,
beeil dich, du wirst gleich dein blaues Wunder erleben! Voller
Vorfreude sah sie den Pfarrherrn die Bühne besteigen, während unten die übrige
Geistlichkeit Platz nahm, sah sie in den Reihen vor sich die schwarzen Rücken
der Männer, weiter hinten in Tuch, weiter vorne in Taft die schulterbreiten
Kragen, weiter hinten mit glattem Rand, weiter vorne mit Spitzen die Hauben der
Frauen, aus purem Leinen hinten, bestickt oder mit bunten Fäden durchwirkt
weiter vorn. Die meisten waren Eltern der polternd und durcheinanderredend auf
dem Podium in zwei Reihen Aufstellung nehmenden Schüler.
    Stille trat ein. Der Rektor
trat an den Bühnenrand. Er eröffnete das Examen, begrüßte die Geistlichkeit,
begrüßte den regierenden und den alten Rat, begrüßte die Gilde- und
Viertelmeister, begrüßte den Syndikus und den Physikus, »Auch begrüße ich
heute… und ganz besonders herzlich begrüße ich auch…«. Vyfken begrüßte, dass es
dann endlich losging.
    Nach einer Stunde war
eingetreten, was sie vorher schon gewusst hatte. Man war bei der letzten
Fragerunde, bei der es auf Schnelligkeit ankam, und immer war Valentins Stimme
zu hören. Er stand in der hinteren Reihe und fiel durch seinen braunroten
Haarschopf auf, und vor allem durch seine Größe.
    »Wie heißt die Regel dazu?«
    »Der fünften
Wörter auf e-ess/sind alle etwas Weibliches.«
    »Und wie baue ich eine Rede
auf?«
    »Exorsus
narro, seco, firmo, refuto, peroro.«
    »Deutsch?«
    »Ich leite ein, teile ein,
begründe, zeige das Gegenteil und komme zum Schluss.«
    Man kam auch
in diesem Jahr wieder zum Schluss, dass der Preis für das beste Examen, ein
Buch und zwei Silbergroschen, an den Schüler Valentin Klein gehen müsse.
    Man klatschte. Ja,
klatscht nur. Voller Genugtuung sah Vyfken nach vorn. Ihr gut
gekleideten Muttis, ihr! Ihr Vatis mit Amtsketten und Bäuchen!
    Valentin
musste nach vorn treten und sich verbeugen. Der Pfarrherr verkündete vom
Podium, der beste Schüler sei Valentin Klein. Man überreichte ihrem Jungen das
Buch, dann das Geld. Pfarrherr und Rektor, die anderen beiden Lehrer, und
Kameraden schüttelten ihm da oben die Hand. Danach lud der Pfarrherr zum
Beisammensein ein, das Bier, wie immer, sei frei, die Bratwürste kosteten
wenig. Valentin kam die Stufen herunter. Die Leute erhoben sich. Die Eltern
nahmen ihre Söhne in Empfang. Er schob sich zu ihr durchs Gedränge.
    »Das ist
meiner«, sagte Vyfken zu der jungen Frau, die neben ihr saß. Sie kannte sie
nicht. Vielleicht war sie zugezogen oder sie hatte zum ersten Mal einen Jungen
dabei.
    »Das ist
meiner, der Preisträger. Das ist mein Sohn.«
    Die Frau aber
schien Vyfken zu kennen. Sie war, an Vyfken gemessen, noch jung, um die dreißig
vielleicht, und wichtig sei nicht nur Bildung, belehrte sie Vyfken, wichtig sei
vor allem auch Herzensbildung. Und dann machte sie auch gleich von ihrer
Herzensbildung Gebrauch: »Aber es ist nicht Euer richtiger Sohn, so viel
ich weiß, oder?«
    Und doch: So
ein Stich war verschmerzt, wenn Vyfken Valentin sah! Seine braunroten Haare,
die Sommersprossen, die leuchtenden braunen Augen, mit denen er sie anstrahlte,
die beiden Hasenzähne, die er entblößte beim Lachen.
    Strahlend
nahm er ihre Hand. »Da!«, sagte er und legte die gewonnenen Silbergroschen
hinein. »Für Euch!«, sagte er. »Ich hab ja das Buch!«
    Und dann zog
er sie, die schon stand, wieder auf die Bank nieder. Sie musste die eine Seite
des Buches halten, damit er ihr das Frontispiz zeigen, den Titel vorlesen,
darin blättern konnte. Es hieß Albertinis Welt – Tummel- und

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