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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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fand, am Tisch sitzend, den Kopf auf der
Tischplatte, die Tinte verwischt, die Feder noch in der Hand – das alles erfuhr
Valentin erst viel später.
    An jenem
Vormittag erfuhr er nur von dem plötzlichen Abgang.
    »Ich habe die
betrübende Aufgabe, Euch allen den plötzlichen Abgang unseres hoch verehrten
Magisters und Bürgermeisters David Heinisch zu melden.«
    Damit war der
Rektor in seine Klasse geplatzt. Und mit ihm der Konrektor, der Kantor, die
Schüler der obersten Klasse, die sich zwischen die von Valentin unterrichteten
Kleinen quetschen mussten, und kaum, dass sie saßen, verlangte der Rektor:
»Steht auf!«
    Und dann kam
der Satz von dem plötzlichen Abgang.
    Wonach
Valentin auch der Verstand abging. Das ist doch nicht richtig!, dachte er
dauernd. Das ist doch nicht richtig, während der Rektor verlangte, dass man ein
stilles Gedenken einlege. Während die Schüler mit gesenkten Köpfen verharrten.
Der Rektor ein Gebet sprach. Der Rektor das Gedenken für beendet erklärte. Die
plötzlich Hereingekommenen die Klasse wieder verließen. Das ist doch nicht
richtig!, während die Schüler ihm weiterhin eine Fabel des Aesop aufsagten, er
auf sich bewegende Münder starrte, nickte, sich sagen hörte: »Der Nächste.« Das
ist doch nicht richtig! Da muss ich einschreiten! Das darf ich nicht dulden!
    Er brachte die
noch verbleibenden Stunden zu Ende, ohne später sagen zu können, womit. Er trat
aus dem Schulhaus, ohne den roten Backstein der Kirche, das Grün der Linden,
den blauen Septemberhimmel zu sehen. Ich muss etwas tun. Gleich nachher würde
er Heinisch aufsuchen. Er würde ihn um eine Unterredung bitten. Am besten
gleich nach dem Essen, noch bevor er sich in seine Stube zurückzog! Wo er
nämlich nicht schlief, wie er seiner Tochter immer versicherte, sondern
auch nach dem Essen arbeitete: Ihm, Valentin, hatte er es einmal gestanden. Er
würde ihm sagen, dass das zu zeitig sei, sterben mit achtundsiebzig! Dass
vielleicht andere, wenn sie keine Aufgabe mehr zu erfüllen hatten, in diesem
Alter gehen durften, aber doch nicht er, doch nicht Heinisch! Dass er, der Herr
Magister selbst, ihn doch auf die Notwendigkeit der Minderheiten hingewiesen
habe, die Notwendigkeit derer, die nicht machten, was alle machten, nicht
sagten, was alle sagten, nicht so dachten, wie alle dachten.
    Dass die Stadt Sodom doch
geblieben wäre, was sie war, eine Stadt in fruchtbarer Gegend, wenn es
wenigstens fünfzig solcher Männer wie Heinisch darin gegeben hätte. Oder
wenigstens vierzig. Oder nur dreißig. Oder nur zwanzig. Oder nur zehn! Nur
zehn, stehe in der Bibel – er, der Herr Magister, habe ihn selbst auf diese
Stelle aufmerksam gemacht! –, nur zehn hätten damals genügt und Sodom würde es
heute noch geben! Nur zehn solcher Männer wie Heinisch genügten, für die
Mehrheit das Leben zu sichern! Er solle, würde er ihm sagen, sich das mit dem
Gestorbensein doch noch einmal überlegen!
    Und außerdem würde er ihm
endlich auch sagen…
    Valentin merkte nicht, wen er
anrempelte, sah nicht, unter welche Räder er beinahe geriet, roch nicht, in
welchen Unrat er trat, hörte weder das Schimpfen des Kutschers noch das Wiehern
der Pferde. Erst auf dem Hof, auf den er, obwohl er es gar nicht wollte, nur
geraten war, weil der angekettete Diso kläffte und das Tor sperrangelweit offen
stand, bemerkte er die Außenwelt wieder. Zwei fremde Frauen, beide schon älter,
die Leichenwäscherinnen, waren ihm im Torweg begegnet. Robert, der Kämme und
Lappen vergraben sollte, rief ihnen freudig »Feine Jungfern, feine Jungfern,
feine Jungfern« nach. Und als Valentin den Tafelwagen des Sargtischlers
erkannte, sank er auf die Bank unter dem Nussbaum und fing an zu heulen, und
Robert, im Bemühen, ihn zu trösten, stammelte: »Feiner Lehrer, feiner Lehrer,
feiner Lehrer«, und klopfte ihm die Wange wie einem Pferd.
    Jenes
Trauermahl, das Kober empfohlen hatte, »Gedächtnismahl« zu nennen, und das
Judith und Valentin aus noch ganz anderen Gründen im Gedächtnis behielten, fand
wenige Tage nach Gottesdienst und Begräbnis im Hause selbst statt. In der Diele
war in Hufeisenform eine Tafel gedeckt. Die bemalten Teller und kunstvollen
Gläser waren von den Konsolen entfernt, die Spiegel verhängt, die prunkvollen
Vorhänge durch bescheidenere ersetzt worden. Es gab nur wenige Gänge. Sechs
sollten genügen. Man aß und trank und dazwischen wurden Reden gehalten.
    Man zeichnete den Lebenslauf
des Verstorbenen nach, seine Kindheit im

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