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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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Tag hatte sie sich verändert, seit dem Tag, da Jura auf die
Pferde einhieb, da unser Vater »Faaahr!« schrie, »Faaahr! Fahr!«, und wir auch
schrien, Jura auf dem Kutschbock, Mutter und ich auf dem Boden des Wagens,
während Pistolenkugeln über uns die Plane zerfetzten, seit dem Tag, da der
Wagen hielt, in irgendeinem Waldstück, die Pferde schweißbedeckt, mit
zitternden Flanken, und Jura sich um die Pferde zu kümmern begann, sie trocken
rieb, mit ihnen sprach, mit den Pferden, mit uns nicht, und wir uns lange nicht
ansahen.
    Die Mutter
blieb stumm, als wir nach zwei Tagen wieder auf die beiden anderen Wagen
stießen. Sie blieb stumm, als die anderen über Jura herfielen, besonders Onkel
Miroslav, als nur ich ihn verteidigte, indem ich Miroslav fragte, wieso er, der
hinter uns fuhr, der Patrouille habe ausweichen können.
    Die Mutter
blieb stumm, als wir, nachdem wir stundenlang nur wieder das Streifen der
Zweige an den durchlöcherten Planen gehört hatten, den gleichmäßigen Schritt
der Pferde, die Jura zu schonen versuchte, die Steinchen, die an das
Untergestell des Wagens schlugen, kurz vor der Grenze auf andere Auswanderer
trafen. »Woher kommt Ihr?« – »Aus Prag. Und Ihr?« – »Aus Stramberg. Aus Mähren.«
Die Prager kamen uns auf der Straße entgegen. Sie hatten sich im letzten
Augenblick anders besonnen, wollten lieber nach Polen, nicht ins sächsische
Pirna. Denn im polnischen Lissa gebe es eine Brüdergemeinde, aber unter den
Emigranten in Sachsen hätten die Lutheraner das Sagen.
    Man reichte uns ein Flugblatt
herüber, das Jura mir aus der Hand riss. »Reu-Kauf« las ich später. Es warnte
vor einem Mangel an Obst, Fleisch und Fisch, vor einem Mangel an Entgegenkommen
seitens der Pirnaer Bevölkerung, vor einem Mangel an Anstand seitens der
Sächsischen Kammer, die mit umständlichen, für uns Tschechen ungünstigen
Verordnungen, an denen allerdings kein Mangel herrsche, uns das Geld aus
der Tasche zöge, und es beklagte jenen Mangel an Religionsfreiheit, um
dessentwillen wir doch unsere Heimat verließen. Wir würden ihn wieder finden,
stand in dem Blatt. Jede tschechische Predigt müsse, bevor sie vor Tschechen
gehalten werde, in Latein oder Deutsch übersetzt nach Dresden geschickt und vom
Hofprediger Dr. Hoě von Hoěnegg genehmigt werden. Den würden wir
schon noch kennen lernen, sagte das Flugblatt. Er sei ein giftiger Hasser der
Brüdergemeinde. Es hasse alles, was nicht Lutherisch sei. Er finde uns
schlimmer als Heiden.
    Onkel Miroslav entschied sich
für Polen. Auch Jura und ich hielten die Umkehr für klüger. Es war das erste
Mal, dass die Mutter wieder den Mund auftat.
    »Unser Geld ist in Dresden«,
sagte sie.
    Der Vater
hatte in den letzten Jahren den größten Teil unseres Vermögens einem
Geschäftsfreund anvertraut. Den kleineren, in Kleidungsstücke eingenäht, hatten
wir bei uns. Also nach Pirna. Uns blieb keine Wahl.
    Später war
die Mutter nicht mehr so wortkarg. Später schwieg sie nie mehr, keine Stunde,
keine Minute, redete von morgens bis abends, jedenfalls kam es mir so vor, die
ich nicht, wie Jura, morgens zur Arbeit aus dem Haus gehen konnte. Er hatte
Arbeit in der Druckerei von Jan Kbelský gefunden, und wie habe ich ihn darum
beneidet! Wie gern hätte ich wenigstens geholfen, wenigstens für wenig, ach
was, für gar kein Geld, die Druckstöcke gewechselt, Papier befeuchtet, Papier
eingelegt. Wie gern hätte ich wieder die Tampen gefärbt. Wieder das leise
Schmatzen gehört, das, wenn man die Platte hebt, den gelungenen Druck anzeigt
und das unser Vater den »Druckerkuss« nannte. Stattdessen saß ich mit der
Mutter am Fenster, denn die Barschaft, von der es in den Papieren bei unserer
Aufnahme hieß: »Zehren von ihrer Barschaft«, war inzwischen längst aufgezehrt.
Jura verdiente nicht viel. Wir strickten den ganzen Tag Strümpfe. Und ich
musste den ganzen Tag den Schmerz meiner Mutter ertragen. Dass wir hätten zu
Hause bleiben sollen. Wo da der Unterschied sei. Dort wie hier schade einem ein
Zuviel an eigener Meinung. Oder ein Zuwenig an Geld. Und wann wir denn endlich
nach Dresden führen, die Sache mit dem Vermögen zu regeln.
    »Wenn Meister
Kbelský Jura dafür beurlaubt, Mutter.« Dass sie diese Falschheit, diese
Feigheit, diese Zerstrittenheit unter uns Tschechen auch in Mähren hätte haben
können. Dass dort aber wenigstens vorher Religionsfreiheit war. Hier sei ja
wohl auch vor dem Krieg keine gewesen.
    Die
Stricknadeln klapperten. Der Lärm auf der

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