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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingeborg Arlt
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Straße nahm zu. Die Sonne stieg höher
und erreichte unser Fenster. Wir hatten erst in der Holdergasse gewohnt, was
wir bald nicht mehr bezahlen konnten. Inzwischen wohnten wir in der
Schifftorvorstadt. Aber auch der Blick auf Dächer, Wiesengrün und das Glänzen
der Elbe lenkte die Mutter von Schmerz und Enttäuschung nicht ab.
    In Mähren
seien die Lutheraner ihrem Martin Luther gefolgt, die Hutterer ihrem Jakob
Hutter, die Kalvinisten ihrem Johann Kalvin, und allesamt seien sie
evangelische Christen gewesen, wogegen man hier diesem Hoě folge, diesem
Hoě-Priester, der zu bestimmen scheine, wer Christ sei und wer nicht, und
dieser Hoě-Priester sei jedenfalls keiner.
    Es war schwer
zu ertragen. Glaubte ich damals jedenfalls, als ich den Krieg noch nicht
kannte. Als ich, was mir begegnete, noch nicht an Sachen wie der gestrigen maß.
    Ich wusste ja, was sie
meinte. Zu den Schwierigkeiten des Anfangs, zu denen Aufnahmegesuch,
Wohnungssuche und die Pirnaer selbst gehörten, waren noch die mit den
tschechischen Gottesdiensten gekommen, für die sich, hörte ich von meiner
Mutter, und zwar zum mindestens zweihundertsten Mal, doch sicher auch noch eine
andere Kirche hätte finden lassen, wenn man nur gewollt hätte, aber man wollte
wohl nicht.
    Es stimmte
ja: Für mich war der Weg, bei schlechtem Wetter quer durch die Stadt, bei
schönem durch Wiesen und Felder, jeden Dienstag und Donnerstag zur Kirche Sankt
Nikolaus, die vor dem Dohnaer Tor stand, das reinste Vergnügen, aber für die
Alten und Kranken war es eine Zumutung. »Und wo steht denn«, nörgelte sie, »du
sollst den Donnerstag heiligen.«
    Als sie das zum ersten Mal
sagte, lachte ich noch. Später lachte ich nicht mehr.
    Die
Emigranten waren untereinander zerstritten, das sah ich selbst. Wer wem vor der
Kirche die Hand gab. Wer lieber nicht neben wem sitzen wollte. Ich saß zwischen
Mutter und Bruder, der Rest unserer Bank war leer, dafür drängte man sich
hinter und vor uns.
    Pastor
Martinius auf der Kanzel ließ keinen Zweifel daran, dass er die Böhmischen
Brüder nicht mochte. »Der küsst doch dem Hoě-Priester die Füße«, flüsterte
Jura mir zu. Er musste es wissen, denn Martinius hatte die Druckerei gekauft,
und ich fragte mich verblüfft, wovon. Jura schnaufte als Antwort verächtlich
durch die Nase.
    »… da die Kalvinisten unter
uns ihre wahre Gesinnung mit Heuchelei bemänteln…« – Die ölige Stimme. Mit
Kalvinisten meinte sie uns.
    »Und weißt
du, was wir nun drucken? Hoěs ›Evangelisches Handbuch‹!«
    »Habt ihr
denn deutsche Lettern?«
    »In
Tschechisch!« – Das war schon kein Flüstern mehr. In der Reihe vor uns sah man
sich nach uns um. Ich unterließ es, nach dem Übersetzer zu fragen.
    Unsere Mutter hatte ja recht.
Ich sah ja selbst, dass einige auf großem Fuß und mit Dienerschaft lebten.
Alexander Kaplíř. Dort saß er. Er ließ sich, seiner Frau und zwei Söhnen
von fünfzehn Dienern aufwarten. Während Pavel Stránský, Schulrektor, Rat und
ein aufrechter Mann, der nach dem Gottesdienst zu uns kommen und Mutter nach
ihrem Ergehen fragen und uns die Hand geben würde, mit seiner Frau sehr beengt
und kümmerlich lebte. Während Pastor Brus, dort vorn rechts an der Säule, der
zwar dieselbe theologische Ausbildung wie Martinius hatte, aber in Sachen religiöser
Toleranz eine andere Meinung, sich sogar mit Almosensammeln behelfen musste.
Ich sah ja selbst, wer eifrig nickte zu Martinius’ Predigt. Hörte ja selbst das
vernehmlich geseufzte Ja, das nicht der Predigt, sondern dem Prediger galt, der
sehen sollte, wer anwesend war. Sah ja selbst, dass Martinius nicht die
Bedürftigen, sondern die Ja-Sager aus der Gemeinde-Armenkasse bedachte.
    Und das sagte
ich, wenn unsere Stricknadeln klapperten, ja auch. Ich stimmte ja zu, wenn das
Klagen, Schimpfen, Nörgeln nicht aufhörte. Ich gab unserer Mutter ja Recht.
    Zehn-,
zwanzig-, hundertmal, weil sie mir bei alldem so Leid tat! Aber es wurde vom
hundertmal Recht geben nicht besser!
     
     
    So, wie meine
Mutter damals bei unserer Ankunft über die vielen Gesuche, die zu stellen waren,
über die Bestechungsgelder, die andere zahlten und die wir, als wir endlich sie
auch zu zahlen bereit waren, nicht mehr zahlen konnten, so, wie sie über
die Gehässigkeiten der Deutschen, über Bemerkungen wie »Ihr seid hier nicht in
Böhmen«, über die Streitigkeiten in der Gemeinde, die verschiedenen Gruppen,
die um Slánský, die um Martinius, die um Hořovský, nicht hinwegkam, so,
wie

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