Die Hure und der Henker
Richter, der streng war, »grausam«, fand sie, die
Schöffen, zu denen auch Kober gehörte.
Am Morgen vor
Hektors Hinrichtung versammelte sich fast die ganze Stadt vor dem Rathaus. Es
war schulfrei. Die Sonne schien. Der Himmel war blau. Alle Läden und
Werkstätten waren geschlossen. Mit Fahnen und Geigenspiel zog man in einem
langen Zug, den ein Wagen mit etlichen Fässern Bier beschloss, durch das
Perleberger Tor zum Richtplatz hinaus. Dort wartete Meister Rudloff, der Scharfrichter,
schon. Man würde die Leute warten, ihre Spannung erst noch ein wenig steigen
lassen, bevor man den zu Hängenden brachte.
Dann würde
man ihn, wusste Judith, die nicht dabei war, denn jemand musste schließlich bei
Baltzer bleiben, der unter seinem Zahndurchbruch litt, jemand musste sich
schließlich um Elsbeth kümmern, die immer gebrechlicher wurde, dann würde man
Hektor, der also auch nicht Hektor hieß, sondern Jürgen Ruck und aus Neuruppin
war, unter den Galgen stellen. Dann würde man ihm den Strick um den Hals legen
und das Urteil, noch einmal verlesen. Er habe zu hängen wegen Spitzwerks und
Buberei, bei dem er weder lahm noch taub, noch stumm gewesen. Dann würde man
einen weißen Stab über ihm zerbrechen und die Spannung würde steigen, denn wenn
über jemanden der Stab gebrochen wurde, war das für die meisten ein Fest.
Auch Valentin zog nicht mit
hinaus. Er hatte sich gleich nach dem Frühstück wieder in seine Stube
verkrochen. Später hörte sie ihn in der Bibliothek.
Und arbeitete nicht, wie sie
beim Eintreten sah. Das Tintenfass war noch zu, die Feder noch nicht
eingefärbt. Er drehte sie in den Händen und sah bei ihrem Eintreten auf.
»Störe ich?«
»Nein, nein.«
Sie setzte sich wie immer vor
ihren Schrank. Sie nahm wie immer eines von ihren Kräuterbüchern auf den Schoß,
ohne es aber aufzuschlagen, während sie erriet, was in ihm vorging.
»Er hat
keinen Schaden getan«, sagte er.
»Doch, er hat
die Beginen betrogen.«
»Das würden sie ihm sicher
verzeihen. Er hat ja für sie auch gearbeitet, hat Holz gesägt und gehackt, hat
Wasser geholt, hat Obstbäume beschnitten, Hühner gefüttert, die Rinnen
gesäubert, den Rasen gemäht, die Öfen geheizt. Und es gibt kein Gesetz, das
Schabernack mit Leitern, Hunden und Wäsche verbietet!«
»Ihr seid
nicht schuld. Ihr habt Kober helfen wollen. Ihr wolltet nicht Hektor schaden.«
Die Feder,
die er zwischen den Händen geknickt, gezaust und gedreht hatte, war nicht mehr
zu gebrauchen.
»Richter und
Schöffen sind mehr zu fürchten als das Gesetz.«
Sie redeten.
Sie redeten über Richter und Schöffen und darüber, dass, wer Schöffe sei, meist
etwas später auch Ratsherr werde. Sie redeten über die Ratswahl und darüber,
dass »Ratswahl« ein Scheinwort sei. Sie redeten über Wörter und Scheinwörter,
»denn während Wörter«, sagte Valentin, »dazu dienen, etwas zu sagen, dienen
Scheinwörter dazu, etwas nicht zu sagen«.
»Und was sagt
man mit ›Ratswahl‹ nicht?«
»Dass es nur um eine neue
Verteilung der Ämter geht. Der Kornbodenmeister vom vorigen Jahr wird in diesem
Jahr Kämmerer, der Kämmerer erhält die Mühlenaufsicht…«
»Der Rat wird
nicht gewählt?«
»Jedenfalls
nicht von den Bürgern. Er wird von seinesgleichen gewählt, das heißt: Sie
teilen die Posten wieder neu unter sich auf.«
»Aber die
Bürgerschaft wird doch geladen.«
»Trotzdem ist
schon alles geregelt, wenn man sie wieder in den Rathaussaal ruft. Wer über die
Brauerei, wer über Giesensdorf wacht, wer die Schlüssel zum Armenkasten
verwahrt, wer die Gerichtsgebühren einzieht, das Wiesengeld und die
Wasserpacht, das wird doch alles schon vorher, bei Hochzeiten, Taufen und
Gartenfesten, beim Kegeln und Scheibenschießen, entschieden.«
So hatte sie das noch gar
nicht gesehen. Noch nie hatte sie sich gefragt, wieso seit Jahrhunderten in der
Stadt stets dieselben Familien regierten. Wieso es immer Kunows, Benzins oder
Chemnitzen, Gartzens, Schaums oder Wiemanns, Wittes, Kobers und Knackrügges
waren, die der im Saal versammelten Bürgerschaft aus der Audienzstube
entgegentraten.
»Was meint
Ihr wohl, warum Euer Vater es manchmal so schwer hatte. Einerseits brauchten sie
seinen Verstand, andererseits war er ihnen im Wege. Außerdem fühlten sie sich
von ihm durchschaut.«
»Worin?«
»In ihren Beweggründen.
Erinnert Euch doch mal an die Sache mit der Viadrina.«
»Die
Universität in Frankfurt?«
»Ja. Das
ehrenvolle Schreiben von dort. Als sie
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