Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom
wohlgesonnen gewesen war und daher ermöglicht hatte, seine Tochter ins ehrwürdige Kloster Siponto zur Schule gehen zu lassen; einige Jahre später die Fälle von Wahnvorstellungen, von Erscheinungen der Gottesmutter unter den dortigen Nonnen; das Interesse der Inquisition, die ihn, den Erzbischof, bedrängte, eine Untersuchung anzuordnen; die Schließung des Klosters bei Nacht und Nebel und das Verhör aller Klosterbewohner.
An Massas Bericht hing ein älterer Inquisitionsbericht aus dem Archiv: Zwei Nonnen waren als verstockte Hexen verbrannt worden, zwei weitere der Ketzerei im minderschweren Fall für schuldig befunden und gegeißelt worden, drei hatte man zu immerwährendem Kerker verurteilt, die Übrigen waren nach peinlicher Befragung, also Tortur, freigelassen worden. Eine junge Frau, eine Schülerin, war im Zuge der peinlichen Befragung gestorben: Es handelte sich um Laura Pezza. Sie war in ungeweihter Erde bestattet worden, ohne dass man die Familie benachrichtigt hatte – ein übliches Vorgehen.
Er erinnerte sich wieder: Die ahnungslose Mutter hatte sich bei der Suche nach ihrer Tochter auch an ihn, den Erzbischof, gewandt. Sie war ihm nahe gekommen, war ihm zu Füßen gefallen und hatte ihn angefleht, ihr zu helfen. Natürlich hatte er sie abdrängen lassen. Die Inquisition schätzte keine Einmischung in ihre Angelegenheiten, und Julius war damals ehrgeizig gewesen und wollte keinen Ärger mit der Inquisition haben. Die Frau hatte ihm leidgetan. Ihre Augen – er hatte Carlotta Pezzas Augen eine Weile nicht vergessen können, bevor sie sich nach und nach in dem größer werdenden schlechten Gewissen verloren, ein Augenpaar unter so vielen anderen. Er hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht. Jetzt rief er sie sich wieder ins Gedächtnis. Die Frau, der er bei Carissimi
begegnet war, ihre Augen – das waren die Augen der Mutter Pezza. Unter den vielen gesichts- und namenlosen Dämonen, die ihn quälten, war sie einer der Ältesten.
Wie es schien, hatte sie sich nicht darauf beschränkt, in seinem Kopf zu spuken, sondern auch in seinem Leben, und zwar sehr real.
Der zweite Teil von Massas Bericht befasste sich nämlich mit den Aktivitäten Carlotta Pezzas. Sie war vor einem halben Jahr in Trient gewesen, wo man sie mit einem Dolch aufgegriffen hatte, und zuvor hatte sie sich in Rom über Innocento kundig gemacht. War es möglich, dass diese Frau …
Julius stand auf und zog an der Schärpe, die von der Decke hing. Es dauerte keinen Atemzug lang, bis Massa hereinkam. Julius fragte sich manchmal, wie Massa das machte. Stand er neben der Tür und wartete, dass die Glocke klingelte?
»Eure Heiligkeit wünschen?«
»Dein Bericht, Massa …«, stammelte Julius erregt.
»Stimmt etwas nicht damit, Eure Heiligkeit?«
»Du deutest darin an, dass diese Frau meinen Sohn – dass sie ihn getötet hat.« Dieses Wort kam ihm so schwer über die Lippen, dieser Verdacht war so unfassbar, dass er kurz das Gefühl hatte, der Boden werde ihm unter den Füßen weggerissen.
Massa schob ihm den Sessel in Position, den Sessel Innocentos. »Nun, vieles spricht dafür«, sagte er trocken. Könnten Registerkarten sprechen – sie würden sich wie Massa anhören. »Der Fürstbischof von Trient informierte mich unlängst, dass man zufällig einen Geheimgang entdeckt habe, der in den Raum führt, in dem Euer Sohn tot aufgefunden wurde. Ich hielt diese Information damals nicht für wichtig genug, um Euch damit zu belasten, und auch der Fürstbischof hat sie mir nur sicherheitshalber gegeben. Doch wenn man sie im heutigen Licht betrachtet …«
»Massa, ich schwöre dir, wenn das wieder einer deiner Ränke ist, dann …« Julius atmete schwer, ließ sich in den Sessel fallen und griff nach der Karaffe, um sich Wein einzuschenken. Aber er war kaum in der Lage, den Kelch zu füllen. Massa nahm ihm das schwere Kristall ab und vollendete Julius’ Vorhaben mit ruhiger Hand.
»Eure Heiligkeit, bei nüchterner Betrachtung aller Fakten ergibt sich die berechtigte These, dass Carlotta Pezza alias Carlotta da Rimini Euren Sohn in Trient getötet hat – vorsätzlich und kaltblütig.«
Selbst in seiner Erregung begriff Julius, dass das, was Massa sagte, einen Sinn ergab. Carlotta Pezza hatte ihm den Sohn genommen, weil sie ihm die Mitschuld am Tod ihrer Tochter gab.
Mit bebender Hand leerte er den Kelch in einem Zug, so als befände sich ein Gift darin, das er einzunehmen entschlossen war. Tatsächlich hatte er nach Innocentos
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