Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom
Wirkung der Medizin oder der Erinnerung.
»Ich wünschte«, sagte sie mit einer Stimme, die beinahe etwas Diabolisches hatte, »ich wünschte, er hätte es getan. Gott steh mir bei: Ich wollte, er hätte seinen Mörder umgebracht.«
Sie brach in Tränen aus, und Forli fühlte sich so schwach wie noch nie. Er hatte keine Ahnung, was er sagen, was er tun konnte, um ihr ein Stück der Last abzunehmen. »Ich werde seinen Mörder finden«, war alles, was er herausbrachte. Er war Soldat, er war Ermittler und als solcher von Berufs wegen ein Rächer. Was lag näher, als Francesca das zu geben, von dem er etwas verstand? Eine kleine Geste herkömmlichen Trostes fand er dann aber doch noch, als er eine noch unge öffnete Blüte der rosa Kletterrose abriss und Francesca überreichte.
Sie nahm sie eher beiläufig entgegen. »Da ist noch etwas, das mir einfällt«, sagte sie mit einer Stimme, wie Menschen sie kurz vor dem Einschlafen haben. »Als er zu mir kam, als Sebastiano wirr redete, fiel das Wort ›Halskette‹, und er nannte
einen Namen: Amalia, Aurelia … Ich erinnere mich nicht mehr.«
»War es vielleicht Augusta?«
»Augusta? Ja, Ihr habt recht. Augusta war der Name, den er nannte. Hilft Euch das weiter, Barnabas? Werdet Ihr wiederkommen?«
»Die Antwort auf beide Fragen ist ja.« Er küsste ihre Hand. »Legt Euch schlafen. Es wird alles gut, Francesca.«
Sie lächelte so kraftlos und müde, als habe sie ihre letzte Schuldigkeit auf Erden getan und könne jetzt in Frieden sterben. Forli wäre am liebsten geblieben, aber er konnte nicht ewig auf dem Holzgestänge am Fenster stehen, zumal die Medizin nun vollständig Besitz von Francesca ergriff. Immerhin: Bevor sie das Fenster schloss, betrachtete sie die Rosenknospe, und das machte ihm den Abstieg leichter.
Er schlich wieder hinter die Eibe und kletterte an derselben Stelle wie vorhin die Mauer hinunter.
Carissimi wartete schon auf ihn. »Was hat sie gesagt?«, fragte er gespannt.
»Habt Ihr nicht etwas vergessen, Carissimi?«
Carissimi sah ihn an. »Gut gemacht, Forli. Beeindruckend. Dort hinauf wäre ich nie gekommen.«
Forli spuckte auf den Boden. »Ihr seid noch nicht einmal über die Mauer gekommen.«
27
Julius saß vor Massas Bericht, einem kleinen Stapel beschriebenen Papiers. Wie alle Berichte Massas, so war auch dieser von einer Übersichtlichkeit, von einer Ordnung und Klarheit und einer Präzision des Ausdrucks und der Schrift, die nichts
von den grauenhaften Folgen ahnen ließ, die das Geschriebene haben würde.
Er blätterte auf die nächste, die letzte Seite, das Rascheln des Papiers unterbrach nur kurz die Grabesstille. Als er aufblickte, war er beinahe überrascht, allein zu sein, so wie immer, wenn er eine Weile an Innocento, seinen geliebten, toten Sohn gedacht hatte. Obwohl der Bericht ihn mit keinem Wort erwähnte, handelte er doch von ihm, denn Innocento war der Grund, weshalb er überhaupt angefertigt worden war. Sein Name war gleichsam mit den Zeilen verwoben, und seine jugendliche Gestalt bewegte sich um Julius herum, sah ihm über die Schulter und nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem er früher oft gesessen hatte, wenn sie sich unterhielten. Damals hatte keiner von ihnen, weder der Vater noch der Sohn, etwas von Carlotta da Rimini gewusst, jener Frau, die zu ihrer beider Schicksal werden sollte.
Eigentlich hieß sie Carlotta Pezza, und der erste Teil des Berichts befasste sich damit, wie man auf diese Wahrheit gesto ßen war. Ein Einbruch in ihre Wohnung hatte einen Rosenkranz und einen Brief zutage gefördert. Der Rosenkranz trug am Verschluss die Abkürzung SIP, und Massa, dem ein riesiges Archiv zur Verfügung stand, hatte herausgefunden, dass SIP die Abkürzung für die Diözese Siponto war, Julius’ Wirkungsstätte als Erzbischof. Der Brief wiederum, von einem Mädchen namens Laura geschrieben, enthielt die Information, dass es in der Klosterschule, in die es ging, seltsame Vorkommnisse unter den Nonnen gab, die auf Fälle von Besessenheit und anderem Teufelswerk hindeuteten. Massa war alle Meldungen über solche Vorfälle innerhalb der Diözese Siponto durchgegangen, hatte sich überdies Material der römischen Inquisition kommen lassen und war so zum Ergebnis gelangt, dass nur eine einzige Laura infrage kam, und die Familie des Mädchens hieß Pezza.
Aus einer fernen Vergangenheit stieg dieser Name in Julius empor, und mit ihm einhergehend Fetzen der Erinnerung: Pietro Pezza, ein tüchtiger Schreiber, dem er
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