Die Hurenkönigin (German Edition)
an, die mit kaltem Braten belegt waren, und sie verspürte unversehens Hunger.
Während sie sich auf einem der Stühle niederließ und eines der Brote ergriff, bat sie die junge Dienstmagd, sich doch zu ihr zu setzen. Vielleicht konnte ihr das Mädchen einiges über die Freifrau erzählen.
Die dunkelhaarige Magd, die fast noch ein Kind war, senkte den Blick und erklärte schüchtern: »Die Freifrau sieht es nicht gerne, wenn die Bediensteten miteinander reden.«
»Wieso denn das?«, wollte Ursel wissen.
Die Dienstmagd, die sich schon wieder zurückziehen wollte, erwiderte: »Sie sagt immer, wir sollen lieber unsere Arbeit machen, als zu klatschen und dummes Zeug zu reden … Ach, ich soll Euch noch bestellen, Ihr sollt Euch mit dem Nähen ranhalten. Die Freifrau hat gesagt, Ihr sollt bis zum Abend fertig sein mit den Perlen. Sie will dann Eure Arbeit begutachten.«
Als Ursel sah, dass die Dienstmagd aus ihrer Schürzentasche den Schlüssel zog, um die Tür abzuschließen, rief sie energisch: »Halt! Wartet bitte einen Augenblick …«
Die Magd zuckte zusammen. »Was denn?«, fragte sie widerstrebend.
»Ich mag es nicht, wenn man mich einsperrt«, stieß Ursel hervor und konnte ihren Unmut kaum zügeln.
»Ich muss es aber machen. Das hat die Freifrau so angeordnet …«, murmelte die Dienerin. »Das wird immer so gemacht, wenn jemand neu ist und mit teuren Sachen zu tun hat. Wenn Euch das stört, müsst Ihr mit der Freifrau sprechen.«
»Ist schon gut«, bemerkte Ursel zerknirscht. »Ihr könnt ja nichts dafür.«
Die Hurenkönigin hatte gerade die letzte Perle festgenäht, räumte die Nähutensilien fort und trat ans Fenster. Der Himmel hatte sich verdüstert, und aus der Ferne vernahm sie Donnergrollen. Obgleich es bereits auf den Abend zuging, war es immer noch unerträglich heiß, und kein Lüftchen wehte. Ursel hoffte auf ein Gewitter, das die lang ersehnte Abkühlung bringen würde. Tief unter ihr floss der Main, auf der anderen Uferseite sah sie die Frankfurter Stadtmauer, über deren Zinnen sich zahllose Dächer und Häusergiebel erhoben. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte gerade, das Dach des Frauenhauses auszumachen, als draußen auf der Wendeltreppe Schritte zu hören waren. Die Freifrau! Ursel war auf ihren Besuch eingestellt.
Wieder war es die junge Magd, die mit einem Tablett in das Nähzimmer trat, doch dicht hinter ihr erkannte Ursel Lioba von Urberg, die zielstrebig auf die Schneiderpuppe zuging.
»Da wollen wir doch mal sehen, ob Sie sich Ihr Abendessen auch verdient hat«, bemerkte die Freifrau mit spöttischem Unterton und nahm das Gewand in Augenschein. Akribisch überprüfte sie jede Perle, indem sie daran zupfte und sich die sachgerechte Fixierung auf dem Stoff besah. Der Hurenkönigin kam es vor wie eine Ewigkeit.
»Scheint so weit in Ordnung zu sein …«, erklärte Lioba schließlich und bedachte die Zimmerin mit einem anerkennenden Blick. »Es ist nämlich von größter Wichtigkeit, dass die Perlen auf dem Stoff ordentlich vernäht sind, immerhin kostet jede ein kleines Vermögen …« Unversehens ließ sich die Freifrau sogar dazu herab, Ursel zu loben und sie erstmals mit dem Namen anzusprechen: »Gute Arbeit, Marie! Das hätte ich Ihr, ehrlich gesagt, gar nicht zugetraut, dass Sie so akkurat ist. Nun denn, dafür will ich Ihr auch eine kleine Anerkennung zukommen lassen und Ihr zum Abendessen einen Krug Wein spendieren.«
Lioba von Urberg schritt zur Tür, öffnete sie und rief ins Treppenhaus: »Anna, bring eine Karaffe Burgunderwein und zwei Becher!« Anschließend ließ sie sich auf einem der Stühle nieder und fragte die erstaunte Hurenkönigin mit leichtem Sarkasmus: »Sie hat doch hoffentlich nichts dagegen, wenn ich Ihr ein wenig Gesellschaft leiste und einen Becher mit Ihr trinke?«
»Keineswegs«, erwiderte Ursel, die beschlossen hatte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und setzte sich auf den Stuhl an der anderen Seite des Tisches. Vor ihr stand ein Teller mit einem gebratenen Hühnerschenkel und verlockend aussehenden Trauben. Mit dem Essen scheint sie sich ja nicht lumpen zu lassen, dachte sie und spürte gleichzeitig, wie ihr der Appetit verging.
Die Freifrau, die Ursels Blick bemerkt hatte, forderte sie auf: »Tu Sie sich keinen Zwang an und esse Sie ruhig.«
Obwohl ihr Magen wie zugeschnürt war, ergriff Ursel den Hähnchenschenkel und biss hinein. Das Fleisch schmeckte köstlich, doch sie kaute darauf herum, als hätte sie Sägespäne
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