Die Hurenkönigin und der Venusorden
jegliche Häme und erklärte beschämt: »Das tut mir sehr leid. Ich werde Irene deshalb zur Rede stellen.«
»Das werde ich auch tun!«, schnaubte Ursel erzürnt. »Und jetzt tu mir bitte den Gefallen und lass mich alleine.«
Alma war den Tränen nahe. »Ursel, ich möchte nicht, dass du unglücklich bist! Es tut mir so leid, was passiert ist«, stieß sie hervor und ergriff Ursels Hand.
Die Aufrichtigkeit, mit der sie das sagte, berührte die Hurenkönigin. »Du kannst ja nichts dafür«, murmelte sie unwirsch. »Zum Fremdgehen gehören immer noch zwei …«
Alma hauchte der Hurenkönigin einen Kuss auf die Stirn, stieg aus dem Bett und kleidete sich an. Ursel beobachtete sie und musste sich widerwillig eingestehen, dass sie es im Grunde genommen bedauerte, wenn Alma ging.
»Kann ich noch etwas für dich tun? Brauchst du irgendwas?«, fragte Alma.
»Einen Eimer Theriak!«, raunzte Ursel, die unversehens ihren Humor wiedergefunden hatte, mit schiefem Grinsen. Die Freundin blickte sie sprachlos an.
»Oder meinethalben einen Krug Wein – und zwei Becher«, stieß sie hervor. »Und bring auch etwas von dem Sonntagskuchen mit. Ich habe nämlich Hunger.«
Nachdem Alma mit dem Weinkrug und dem Kuchen zurückgekehrt war, reichte sie der Hurenkönigin, die im Bett düster vor sich hin brütete, ein Stück von dem Gugelhupf und einen Becher Wein. Dann ging sie zu der Holztruhe am Fenster, aus der sie unter ihren Habseligkeiten ein dickes, in Leder gebundenes Buch hervorholte. Damit ließ sie sich an Ursels Seite nieder und erklärte, während sie mit zärtlicher Geste über den speckigen und abgegriffenen Einband strich: »Das ist das ›Buch der Schatten‹, in welchem die Mysterien der Großen Mutter aufgezeichnet wurden. Ich vermag nicht zu sagen, von wem es verfasst wurde oder aus welcher Zeit es stammt. Es ist jedoch schon sehr, sehr alt, denn es befindet sich seit Jahrhunderten im Besitz unserer Familie. Seit jeher wird es von der Mutter an die Tochter weitergegeben. Auch ich werde es dereinst Irene überlassen. Meine Mutter sagte mir, dass der Inhalt des Buches ursprünglich, als die Menschen noch nicht über die Schrift verfügten, mündlich weitererzählt wurde. Wenn du gestattest, möchte ich dir ein wenig daraus vorlesen.« Alma blickte die Hurenkönigin fragend an.
Ursel zuckte mit den Schultern. »Von mir aus«, grummelte sie mürrisch. »Vielleicht bringt es mich ja auf andere Gedanken.«
»Ganz sicher«, stimmte ihr Alma zu. »Es wird dir sehr guttun.«
Alma fing mit ihrer dunklen, wohltönenden Stimme an, aus dem Buch vorzulesen. Schon nach der ersten Seite lauschte ihr die Hurenkönigin gebannt.
Erst als es bereits anfing zu dämmern, unterbrach Alma ihre Lektüre und stand auf, um die Kerzen anzuzünden.
Ursel war in die wundersamen Geschichten über die Göttin der Liebe so versunken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie die Zeit verging. »Bitte lies weiter!«, bat sie mit der Ungeduld eines Kindes, und als Alma wieder Platz nahm und die Seiten aufschlug, um weiterzulesen, seufzte die Hurenkönigin wohlig. »Ich könnte dir stundenlang zuhören«, flüsterte sie.
Irgendwann fielen Ursel die Augen zu, und sie sank in bleiernen Schlaf. Sie träumte von der Göttin der Liebe, die aussah wie die berühmte Allegorie der Frau Venus, die als Holzschnitt über Bernhards Schreibpult hing. Genauso wie auf dem Bildnis hielt Frau Venus das Narrenseil der Liebe, an dem sie zwei Narren, einen Mönch, einen Kuckuck, einen Esel und einen Affen vor sich hertrieb, fest in den Händen. Mit Entsetzen gewahrte Ursel, dass auch sie selbst am Liebesseil hing. An der Seite der Göttin war plötzlich eine schemenhafte Gestalt zu erkennen. Es war der Tod, der sie mit gebleckten Zähnen angrinste.
Frau Venus lächelte und sprach: »An meinem Seil ich scheuche / Viel Narren, Affen, Esel, Gäuche / Die ich verführ, betrüg und täusche!«
Ursel blickte sie bestürzt an und erkannte mit Schrecken, dass die Göttin der Liebe die Züge von Irene hatte.
4
Montag, 26 . März 1512
Im Frauenhaus am Dempelbrunnen begann der Tag ungewöhnlich früh. Um die siebte Stunde kroch Ursel verschlafen aus dem Bett, weckte die Jennischen Marie, die rote Mäu und Irene und stapfte mit schweren Schritten die Treppe hinunter. In der Schankstube waren die Hausmägde schon dabei, gründlich den Boden zu wienern, es roch nach Kernseife und Honigwachs. Ursel ging in die Küche, wo sie sich an den bullernden Ofen setzte, auf dem
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