Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
oder links im Halbdunkel: einmal ein Paar Beine aus Stein, die wie gigantische Gebäude durch die Dunkelheit ragten; ein andermal erspähte er etwas, das ein Skarabäus aus Kristall zu sein schien, der sich hoch über ihm drehte und in dessen Innern ein kaltes Feuer leuchtete.
Schließlich blieb Sol stehen, um auszuruhen. Weit hinter sich konnte er eine gewaltige Feuersbrunst hören, es schien, als stünden ganze Städte und Wälder in Flammen. Vor ihm glühten zwei Lichter, auf die er zugegangen war, zwei dunkelrote Ovale.
Er wischte sich Schweiß von der Stirn, als eine donnernde Stimme zu ihm sagte:
»Sol! Nimm deine Tochter, deine einzige Tochter Rachel, die du liebst, und geh zu der Welt genannt Hyperion und bringe sie an dem Ort, den ich dir zeigen werde, als Brandopfer dar.«
In seinem Traum hatte Sol dagestanden und gesagt: »Das kann nicht dein Ernst sein.« Und er war weiter durch die Dunkelheit gegangen, die roten Ovale glühten nun wie blutige Monde über einer einförmigen Ebene, und als er wieder stehenblieb, um auszuruhen, sagte die donnernde Stimme:
»Sol! Nimm deine Tochter, deine einzige Tochter Rachel, die du liebst, und geh zu der Welt genannt Hyperion und bringe sie an dem Ort, den ich dir zeigen werde, als Brandopfer dar.«
Und Sol hatte die Last der Stimme abgeschüttelt und laut und deutlich in die Dunkelheit gesagt: »Ich habe dich schon beim ersten Mal verstanden ... Die Antwort ist immer noch nein.«
Sol wußte schon, daß er träumte, und einem Teil von ihm gefiel die Ironie des Drehbuchs, aber ein anderer Teil wollte nur aufwachen. Statt dessen fand er sich auf einem niederen Balkon wieder, wo er in einen Raum hinab sehen konnte, in dem Rachel nackt auf einem breiten Steinblock lag. Die Szene wurde vom Leuchten der beiden roten Ovale beleuchtet. Sol betrachtete seine rechte Hand und stellte fest, daß er ein langes, gekrümmtes Messer darin hielt. Klinge und Griff schienen aus Knochen gemacht zu sein.
Die Stimme, die sich für Sol mehr denn je so anhörte, wie sich seiner Meinung nach ein unbegabter Holieregisseur die Stimme Gottes vorstellen mochte, ertönte wieder:
»Sol! Du mußt gut zuhören. Die Zukunft der Menschheit hängt von deinem Gehorsam in dieser Sache ab. Nimm deine Tochter, deine einzige Tochter Rachel, die du liebst, und geh zu der Welt genannt Hyperion und bringe sie an dem Ort, den ich dir zeigen werde, als Brandopfer dar.«
Sol, der den ganzen Traum satt hatte und doch irgendwie von ihm erschreckt wurde, hatte sich umgedreht und das Messer weit in die Dunkelheit geschleudert. Als er sich umdrehte, um nach seiner Tochter zu sehen, verblaßte die ganze Szene. Die roten Ovale waren näher denn je, und jetzt konnte Sol sehen, daß es sich um facettenreiche Edelsteine so groß wie kleine Welten handelte. Die verstärkte Stimme erklang wieder:
»Nun? Du hast deine Chance gehabt, Sol Weintraub. Wenn du deine Meinung ändern solltest, weißt du ja, wo du mich finden kannst.«
Sol war halb lachend und halb fröstelnd aus dem Traum erwacht. Amüsiert hatte ihn der Gedanke, der gesamte Talmud und das Alte Testament könnten nichts weiter sein als eine kosmische Schmierenkomödie.
Etwa zu der Zeit, als Sol seinen Traum hatte, befand sich Rachel auf Hyperion und beendete das erste Jahr ihrer Forschungen dort. Das Team der neun Archäologen und sechs Physiker hatte das Keep Chronos faszinierend, aber zu sehr von Touristen und potentiellen Shrike-Pilgern bevölkert gefunden, daher hatten sie nach dem ersten Monat im Hotel ein dauerhaftes Lager zwischen der verfallenen Stadt und dem Tal aufgeschlagen, wo sich die Zeitgräber befanden.
Während die Hälfte des Teams die jüngeren Stätten der unvollendeten Stadt ausgrub, halfen zwei Kollegen Rachels ihr, jeden Aspekt der Zeitgräber zu katalogisieren. Die Physiker waren von den Anti-Entropiefeldern fasziniert und verbrachten viel Zeit damit, kleine Wimpel in verschiedenen Farben aufzustellen, die die Grenzen der sogenannten Zeitgezeiten kennzeichneten.
Rachels Team konzentrierte seine Arbeit auf ein Gebilde, das Sphinx genannt wurde, obwohl das in Stein abgebildete Geschöpf weder Mensch noch Löwe war; es konnte sein, daß es sich überhaupt nicht um ein Geschöpf handelte, obwohl die glatten Kurven auf der Spitze des Steinmonolithen auf etwas Lebendes hindeuteten und die ausgebreiteten Anhängsel in allen den Eindruck von Flügeln erweckten. Im Gegensatz zu den anderen Gräbern, die offen
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