Die Hyperion-Gesänge 01 - Hyperion
Türen, wenn man sie angesichts der Tatsache, daß sie nirgendwo hin führten, überhaupt als solche bezeichnen konnte, konnten dreieckig oder rautenförmig oder zehnseitig, ebenso wie schlicht rechteckig sein.
Rachel kroch die letzten zwanzig Meter einen Steilhang hinunter, ließ den Rucksack vor sich her rutschen. Die kalten Glühkugeln verliehen dem Fels und ihrer Haut einen blauen, blutleeren Schimmer. Als sie den ›Keller‹ schließlich erreichte, fand sie einen Haufen menschlicher Gebrauchsgüter und Gerüche vor. Mehrere Klappstühle beanspruchten die Mitte des kleinen Raums, während Detektoren, Oszilloskope und anderes Zubehör sich auf dem schmalen Tisch an der Nordseite drängten. Auf einer Diele auf Sägeböcken an der gegenüberliegenden Wand standen Kaffeetassen, ein Schachbrett, ein halb aufgegessener Krapfen, zwei Taschenbücher und ein Plastikspielzeug – eine Art Hund mit Baströckchen.
Rachel machte es sich gemütlich, stellte die Thermoskanne mit Kaffee neben das Spielzeug und überprüfte die Detektoren kosmischer Strahlung. Die Daten schienen dieselben zu sein: keine versteckten Zimmer oder Durchgänge, nur ein paar Nischen, die selbst dem Tiefenradar entgangen waren. Morgen früh würden Melio und Stefan eine Tiefensonde einsetzen, Aufzeichnungsbatterien hereinbringen und Atmosphärenproben entnehmen, bevor sie mit einem Mikrogreifer weitergruben. Bislang hatten sie in neun solchen Nischen nichts Interessantes gefunden. Im Lager machte der Witz die Runde, daß man im nächsten Loch, das nicht größer als eine Faust war, Miniatursarkophage, winzige Urnen, eine kleine Mumie oder – wie Melio sich ausdrückte – »einen klitzekleinen niedlichen Tut-Enchamun« finden würde.
Aus Gewohnheit probierte Rachel die Komrelais ihres Komlogs. Nichts. Vierzig Meter Stein bewirkten das. Sie hatten davon gesprochen, Telefonkabel vom Keller zur Oberfläche zu legen, aber dazu hatte keine zwingende Veranlassung bestanden, und jetzt war ihre Zeit fast abgelaufen. Rachel stellte die Inputkanäle des Komlog so ein, daß sie die Detektordaten übertrugen, und stellte sich auf eine lange und langweilige Nacht ein.
Es gab eine wunderbare Geschichte über einen Pharao der Alten Erde – war es Cheops? –, der eine gewaltige Pyramide in Auftrag gab, darin einwilligte, daß die Grabkammer tief unter dem Zentrum des Bauwerks liegen sollte und dann jahrelang nachts wach lag und in klaustrophobischer Panik an die Tonnen Stein dachte, die eine Ewigkeit über ihm sein würden. Schließlich befahl der Pharao, daß man die Grabkammer ins obere Drittel der Pyramide verlegte. Höchst unorthodox. Rachel konnte den Standpunkt des Pharao verstehen. Sie hoffte – wo immer er sein mochte –, daß er jetzt besser schlief.
Rachel döste fast selbst, als – um 02.15 – ihr Komlog zirpte, die Detektoren kreischten und sie erschrocken aufsprang. Nach den Sensoren waren der Sphinx plötzlich ein Dutzend neue Kammern gewachsen, manche größer als das gesamte Gebilde. Rachel tippte Displays ein, worauf Modelle in der Luft erschienen, die sich vor ihren Augen veränderten. Korridorpläne krümmten sich in sich selbst zurück wie rotierende Möbiusstreifen. Die Außensensoren zeigten an, daß sich das gesamte Gebilde bog und wand wie Polyflex im Wind – oder wie Flügel.
Rachel wußte, daß es sich um eine multiple Fehlfunktion handeln mußte, doch noch während sie versuchte, neu zu kalibrieren, rief sie Daten und Eindrücke im Komlog ab. Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig.
Sie hörte Schritte im Korridor über sich.
Irgendwo im Irrgarten der Korridore fing der Zeitgezeitenalarm an zu heulen.
Alle Lichter gingen aus.
Das letzte Ereignis ergab keinen Sinn. Die Instrumentenpacks enthielten ihre eigenen Energiequellen und hätten während eines Atomangriffs intakt bleiben müssen. Die Lampe, die sie im Keller benützten, hatte Energiezellen mit zehn Jahren Speicherkraft. Die Glühkugeln in den Korridoren waren biolumineszent und brauchten keine Energie.
Dennoch waren die Lichter aus. Rachel zog einen Taschenlampenlaser aus der Knietasche des Sprunganzugs und löste ihn aus. Nichts geschah.
Zum ersten Mal in ihrem Leben legte sich Entsetzen um Rachel Weintraub wie eine Hand um ihr Herz. Sie konnte nicht atmen. Zehn Sekunden lang zwang sie sich, vollkommen ruhig zu sein, nicht einmal zu lauschen, sondern nur zu warten, bis die Panik abgeklungen war. Als sie soweit abgeklungen war, daß Rachel wieder atmen konnte,
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