Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
eines Nachts erscheinen und sie mitnehmen würde. Sie hatte Zettel mit dem Weg zu ihrem Zimmer unter der schindelgedeckten Mansarde hinterlassen. Sie hatte das Haus verlassen, wenn ihre Eltern schliefen, sich ins weiche Gras auf dem Rasen des Deer Park gelegt, den milchiggrauen Nachthimmel von TC1f betrachtet und von dem Jungen aus Nimmerland geträumt, der sie eines Nachts mit sich nehmen und zum zweiten Stern von rechts fliegen würde, bis zum Morgengrauen. Sie würde seine Gefährtin sein, die Mutter der verlorenen Jungs, gemeinsame Nemesis des bösen Hook und vor allem Peters neue Wendy ... die neue kindliche Freundin des Kindes, das nie erwachsen wurde.
Jetzt, zwanzig Jahre später, war Peter sie endlich holen gekommen.
Lamia hatte keine Schmerzen verspürt, nur den plötzlichen, eisigen Sog der räumlichen Versetzung, als der Stahlstachel des Shrike und die Neuralsteckdose hinter ihrem Ohr eingedrungen war. Dann war sie unterwegs und flog.
Sie war schon einmal durch die Dateiebene in die Datensphäre eingedrungen. Erst vor Wochen ihrer Zeit war Lamia mit ihrem Lieblingscyberpuke, dem dummen BB Surbringer, in die Matrix des TechnoCore geritten, um Johnny zu helfen, seine Cybrid-Persönlichkeitsrekonstruktion zu stehlen. Sie waren in die Peripherie eingedrungen und hatten die Persönlichkeit gestohlen, aber dabei einen Alarm ausgelöst, BB war gestorben. Lamia wollte nie wieder in die Datensphäre eindringen.
Aber jetzt war sie dort.
Das Erlebnis war nicht mit anderen vergleichbar, die sie zuvor mit Komlogverbindungen oder Modulen gehabt hatte. Dies war wie eine Rundum-Stimsim – als befände sie sich in einem Holorama in Farbe und mit dreihundertsechzig Grad Stereo –, dies war Dabeisein.
Peter war endlich gekommen und hatte sie mitgenommen.
Lamia stieg über die Krümmung der planetaren Ausdehnung von Hyperion empor und sah die rudimentären Kanäle der Mikrowellendatenströme und Richtstrahlkomverbindungen, die hier als primitive Datensphäre galten. Sie verweilte nicht, um sich einzuklinken, denn sie folgte einer orangefarbenen Nabelschnur himmelwärts zu den wahren Alleen und Straßen der Dateiebene.
Der Weltraum um Hyperion war von FORCE und dem Schwarm der Ousters erobert worden, beide hatten die komplexen Netzwerke und Gitter der Datensphäre mit sich gebracht. Mit ihren neuen Augen konnte Lamia die tausend Ebenen der Datenströme von FORCE erkennen, ein aufgewühlter grüner Ozean von Informationen, dazwischen die roten Venen gesicherter Kommkanäle und die kreisenden violetten Kugeln mit ihren schwarzen Phagenkurieren, bei denen es sich um die KIs von FORCE handelte. Dieses Pseudopodium der großen Megadatensphäre des Netzes strömte durch die schwarzen Trichter von schiffseigenen Farcastern an expandierenden Wellenfronten überlappender, gleichzeitiger Wogen entlang in den Normalraum, in denen Lamia die kontinuierlichen Ausbrüche Dutzender Fatlinesender erkannte.
Sie verharrte plötzlich, weil sie nicht sicher war, wohin sie gehen sollte, welche Straße die richtige war. Es war, als wäre sie geflogen, und ihre Unsicherheit hätte den Zauber in Gefahr gebracht – sie drohte, auf den viele Meilen weiter unten gelegenen Boden abzustürzen. Dann ergriff Peter ihre Hand und zog sie empor.
– Johnny!
– Hallo, Brawne.
Ihr eigenes Körperanalogon wurde klickend im selben Augenblick sichtbar, wie sie seines sah und spürte. Es war Johnny, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte – ihr Klient und Liebhaber –, Johnny mit den vorstehenden Wangenknochen, Mandelaugen, der gedrungenen Nase und dem kantigen Kiefer. Johnnys rotbraune Locken fielen immer noch über den Kragen, sein Gesicht blieb eine Studie entschlossener Energie. Sein Lächeln brachte sie immer noch innerlich zum Schmelzen.
Johnny! Da umarmte sie ihn und spürte die Umarmung, spürte seine kräftigen Hände auf dem Rücken, während sie hoch über allem schwebten, spürte, wie sich ihre Brüste an seinen Brustkorb schmiegten, als er die Umarmung mit für seinen zierlichen Körper überraschender Kraft erwiderte. Sie küßten sich, und daß das echt war, ließ sich nicht bestreiten.
Lamia legte ihm die Hände auf die Schultern und schwebte auf Armeslänge weg. Ihrer beider Gesichter wurden vom grünen und violetten Leuchten des gewaltigen Ozeans der Datensphäre über ihnen erhellt.
– Ist das echt? Sie hörte die Frage in ihrer eigenen Stimme einschließlich Dialekt, obwohl sie wußte, daß sie sie nur gedacht hatte.
– Ja.
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