Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
hinausbrüllt.
Er stolpert wieder weiter, findet eine Öffnung und kommt in einen Raum, der größer ist als alle, an die er sich von der heutigen Erkundung her erinnern kann. Kahle, durchscheinende Wände ragen dreißig Meter um eine gewaltige Leere herum empor. Hoyt fällt stolpernd auf Hände und Knie, sieht nach unten und stellt fest, daß der Boden fast durchsichtig geworden ist. Er sieht in einen vertikalen Schacht unter der dünnen Membran des Fußbodens; einen Schaft, der einen Kilometer oder mehr in ein Flammenmeer hinabführt. Der Raum ist vom orangeroten Flackern des Feuers so weit unten durchdrungen.
Hoyt rollt sich auf die Seite und lacht. Wenn dies ein Bildnis der Hölle sein soll, das seinetwegen heraufbeschworen wurde, so hat es seinen Zweck verfehlt. Hoyts Bild der Hölle ist greifbar; es sind die Schmerzen, die in ihm rasen, als zöge man Stacheldraht durch seine Adern und Eingeweide. Die Hölle, das ist auch die Erinnerung an hungernde Kinder in den Elendsvierteln von Armaghast und das Lächeln von Politikern, die Jungs in den Kolonialkriegen in den Tod schicken. Die Hölle ist die Vorstellung, die Kirche könnte zu seinen Lebzeiten sterben, zu Durés Lebzeiten, daß die letzten Gläubigen eine Handvoll alte Männer und Frauen sind, die nur wenige Bänke in den riesigen Kathedralen auf Pacem füllen. Die Hölle, das ist die Scheinheiligkeit, die Frühmesse zu lesen, während das Böse in Gestalt der Kruziform warm und obszön über seinem Herzen pulsiert.
Ein Schwall heißer Luft steigt auf, und Hoyt beobachtet, wie ein Abschnitt des Bodens zurückgleitet und eine Falltür in den Schacht unten bildet. Der Raum füllt sich mit Schwefelgestank. Hoyt lacht über das Klischee, doch das Lachen wird innerhalb von Sekunden zu einem Schluchzen. Er liegt jetzt auf den Knien und klaubt mit blutigen Fingernägeln an den Kruziformen auf Brust und Rücken. Die kreuzförmigen Wülste scheinen im roten Licht zu glühen. Hoyt kann die Flammen unten hören.
»Hoyt!«
Er dreht sich schluchzend um und sieht den Umriß der Frau – Lamia – unter dem Türrahmen. Sie sieht an ihm vorbei, hinter ihn, und hebt die antike Pistole. Ihre Augen sind weit aufgerissen.
Pater Hoyt spürt die Hitze hinter sich, hört das Prasseln eines fernen Heizofens, aber über alledem hört er plötzlich das Schaben von Metall auf Stein. Schritte. Hoyt, der immer noch an dem blutigen Wulst auf der Brust krallt, dreht sich um und scheuert sich dabei die Knie am Boden wund.
Den Schatten sieht er zuerst: zehn Meter scharfkantige Winkel, Dornen, Klingen ... Beine wie Stahlrohre mit einer Rosette aus scharfen Klingen an den Knien und Knöcheln. Dann sieht Hoyt im Pulsieren von heißem Rotlicht und schwarzen Schatten die Augen. Hundert Facetten ... tausend ... leuchten rot, ein Laser hinter zwei Rubinen über dem Kragen aus Dornen und der Quecksilberbrust, in der sich Flammen und Schatten spiegeln ...
Brawne Lamia feuert die Pistole ihres Vaters ab. Das Knallen der Schüsse tönt hoch und eindimensional über dem Brausen des Feuerofens.
Pater Lenar Hoyt wirbelt zu ihr herum und hebt eine Hand. »Nein, nicht!« schreit er. »Es gewährt einen Wunsch! Ich muß einen ...«
Das Shrike, das dort war – fünf Meter entfernt –, ist plötzlich hier, eine Armeslänge von Hoyt entfernt. Lamia hört auf zu schießen. Hoyt schaut auf, sieht sein Spiegelbild im feuergetönten Panzer des Dings ... sieht im selben Moment etwas anderes in den Augen des Shrike ... und dann ist es fort, das Shrike ist fort, und Hoyt hebt langsam die Hand, greift sich fast nachdenklich an den Hals, betrachtet eine Sekunde den roten Springbrunnen, der seine Hand benetzt, seine Brust, die Kruziform, den Bauch ...
Er dreht sich zur Tür um und sieht Lamia, die immer noch voll Entsetzen und Schock geradeaus starrt, aber jetzt nicht mehr auf das Shrike, sondern auf ihn, Pater Lenar Hoyt von der Gesellschaft Jesu, und im selben Moment stellt er fest, daß die Schmerzen fort sind, und er macht den Mund auf, um zu sprechen, aber es kommt nur noch mehr Rot heraus, ein zischender roter Geysir. Hoyt sieht wieder an sich hinab, stellt zum ersten Mal fest, daß er nackt ist, sieht das Blut von Kinn und Brust tropfen, tropfen und auf den jetzt dunklen Boden strömen, sieht das Blut fließen, als hätte jemand einen Eimer mit roter Farbe ausgeschüttet, und dann sieht er nichts mehr, als er Gesicht voraus auf den weit ... so weit ... entfernten Boden fällt.
6
Diana
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