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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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geisterhaft durch die Zimmer des Anwesens glitt; an unendlich feine blaue Äderchen auf dem Rücken ihrer zarten Hand, wenn sie im Damast- und Staublicht des Konservatoriums Tee einschenkte; an Kerzenlicht, das sich wie eine goldene Fliege im Spinnwebnetz ihres glänzenden Haars fing, das sie im Stil der Grandes Dames zu einem Knoten geformt trug. Manchmal träume ich, dass ich mich an ihre Stimme erinnere, Melodik und Tonfall und die Gebärmutter- Zentriertheit, aber dann wache ich auf und sie wird zum Geräusch des Windes, der durch Spitzenvorhänge weht, oder zum Rauschen eines fremden Meeres auf Stein.
    Seit meinem frühesten Selbst empfinden wusste ich, dass ich Dichter werden wollte – sollte. Nicht, dass ich eine andere
Möglichkeit gehabt hätte: Es war so, als würde die sterbende Schönheit rings um mich herum ihren letzten Odem in mich hauchen und befehlen, dass ich dazu verdammt sein würde, den Rest meines Lebens mit Worten zu spielen, gleichsam als Buße dafür, dass unsere Spezies ihre Heimatwelt so sorglos vernichtet hatte. Nun denn, ich wurde Dichter.
    Ich hatte einen Lehrer, der Balthasar hieß, menschlich, aber uralt, ein Flüchtling der nach Fleisch riechenden Gassen des alten Alexandria. Balthasar glühte förmlich blauweiß durch die frühen, unausgereiften Poulsen-Behandlungen; er war wie die bestrahlte Mumie eines Menschen und in Plastik eingeschweißt. Und geil wie der sprichwörtliche Bock. Jahrhunderte später, als ich meine Satyr-Periode hatte, verstand ich die Fleischeslust des armen Don Balthasar besser, aber damals war sie weitgehend dafür verantwortlich, dass es kein junges Mädchen vom Personal auf dem Anwesen aushielt. Mensch oder Android, für Don Balthasar machte das keinen Unterschied – er hat sie alle gepimpert.
    Zum Glück für meine Ausbildung hatte Don Balthasars Sucht nach jungem Fleisch keine homosexuelle Komponente, daher äußerten sich seine Eskapaden entweder als Abwesenheit von unseren Unterrichtsstunden oder als unangemessene Aufmerksamkeit beim Auswendiglernen von Versen Ovids, Seneshs oder Wus.
    Er war ein ausgezeichneter Lehrmeister. Wir studierten die Altvorderen und die Klassiker, unternahmen Ausflüge zu den Ruinen von Athen, Rom, London und Hannibal, Missouri, und wir machten nicht einmal einen Test oder eine Fragestunde. Don Balthasar erwartete, dass ich alles beim ersten Mal auswendig lernte, und ich enttäuschte ihn nicht. Er überzeugte meine Mutter, dass die Fallgruben »progressiver Ausbildung« nichts für eine Familie der Alten Erde waren, daher lernte ich die gedanklichen Abkürzungen von RNS-Operationen, Datensphärenimmersion,
systematischem Flashbacktraining, stilisierten Begegnungsgruppen, gesteigertem Denkvermögen auf Kosten von Fakten und Präliteratprogrammierung gar nicht erst kennen. Als Folge dieser Mängel konnte ich mit sechs Jahren Fitzgeralds Übersetzung der Odyssee vollständig aufsagen, konnte eine Sestina komponieren, noch bevor ich mich selber anziehen konnte, und in spiralförmigen Fugenversen denken, bevor ich überhaupt Kontakt mit einer KI hatte.
    Meine wissenschaftliche Ausbildung dagegen war alles andere als gründlich. Don Balthasar hatte wenig bis gar kein Interesse für »die mechanische Seite des Universums«, wie er sich ausdrückte. Ich war zweiundzwanzig, bis mir klar wurde, dass Computer, RMUs und Onkel Kowas Lebenserhaltungssysteme auf dem Asteroiden Maschinen waren und nicht gütige Manifestationen der Animas um uns herum. Ich glaubte an Feen, Waldnymphen, Numerologie, Astrologie und die Magie der Mitsommerwende in den primitiven Wäldern des NAN. Wie Keats und Lamb in Haydons Studio, so brachten auch Don Balthasar und ich Trinksprüche auf »den Irrweg der Mathematik« aus und beklagten, dass M. Newtons Prisma dem Regenbogen seinen Zauber genommen hatte. Mein anfängliches Misstrauen und regelrechter Hass auf alles Wissenschaftliche und Klinische hat mir im späteren Leben gute Dienste geleistet. Ich habe herausgefunden, dass es in der postwissenschaftlichen Hegemonie keine Kunst ist, ein vorkopernikusscher Heide zu sein.
     
    Meine ersten Gedichte waren abscheulich. Aber wie alle schlechten Dichter merkte ich das nicht und wiegte mich sicher in der arroganten Überzeugung, dass allein der schöpferische Akt den wertlosen Knüttelversen, die ich hervorbrachte, einen gewissen Wert verlieh. Meine Mutter blieb auch dann noch tolerant, als ich anfing, übelriechende kleine Häufchen
Pennälerlyrik im ganzen Haus

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