Die Hyperion-Gesänge
würde.
»Martin?«
»Ja.«
»Bevor Sie gehen – fällt Ihnen noch etwas ein, das uns helfen könnte, dieses Ding besser zu verstehen?«
Ich verweilte unter der Tür und spürte, wie mir das Herz an die Rippen schlug, als wollte es hinaus. »Ja«, sagte ich mit nur wenig fester Stimme. »Ich kann Ihnen sagen, wer und was das Shrike wirklich ist.«
»Oh?«
»Es ist meine Muse«, sagte ich, drehte mich um, ging auf mein Zimmer und schrieb weiter.
Selbstverständlich hatte ich das Shrike beschworen. Das wusste ich. Ich hatte es mit meinem epischen Gedicht beschworen. Am Anfang war das Wort.
Ich änderte den Titel des Gedichts in Hyperionische
Gesänge. Es handelte nicht vom Planeten Hyperion, sondern vom Verschwinden der selbstgeschaffenen Titanen namens Menschheit. Es handelte von der dummen Selbstüberschätzung einer Spezies, die ihren Heimatplaneten durch ihre Sorglosigkeit vernichtete und diese gefährliche Arroganz dann zu den Sternen trug, nur um sich dem Zorn eines Gottes ausgeliefert zu sehen, zu dessen Erschaffung sie selbst ihren Teil beigesteuert hatte. Hyperion war das erste ernste Werk, das ich seit vielen Jahren in Angriff genommen hatte, und es war das beste, das ich je schreiben würde. Was als komisch-ernste Hommage an den Geist von John Keats begonnen hatte, wurde zu meinem letzten Grund zu leben, eine epische tour de force in einer Zeit der mittelmäßigen Farce. Hyperionische Gesänge wurde mit einem Geschick geschrieben, wie ich es nie hätte aufbringen können, einer Meisterschaft, derer ich nie fähig gewesen wäre, und es wurde mit einer Stimme gesungen, die nicht meine eigene war. Das Dahinscheiden der Menschheit war mein Thema. Das Shrike war meine Muse.
Zwanzig weitere Menschen starben, bevor König Billy die Stadt der Dichter evakuierte. Einige der Evakuierten gingen nach Endymion oder Keats oder in eine andere der neuen Städte, aber die meisten beschlossen, mit dem Saatschiff ins Netz zurückzureisen. König Billys Traum von einem kreativen Utopia starb, doch der König selbst lebte weiterhin in seinem düsteren Palast in Keats. Die Regierungsgewalt über die Kolonie ging an den Heimat-Regierungsrat, der sich sofort um Mitgliedschaft in der Hegemonie bewarb und eine Selbstschutztruppe gründete. Die SST – die weitgehend aus denselben Eingeborenen bestand, die sich vor einem Jahrzehnt noch gegenseitig mit Keulen erschlagen hatten, nun aber von selbsternannten Offizieren unserer Kolonie befehligt wurden – störte lediglich die friedliche Nachtruhe mit ihren automatischen
Gleiterflügen und verunstaltete die Schönheit der wiederkehrenden Wüste mit ihren mobilen Beobachtungsmechs.
Überraschenderweise war ich nicht der Einzige, der blieb; mindestens zweihundert verweilten ebenfalls, aber wir vermieden weitestgehend gesellschaftliche Kontakte, lächelten einander höflich zu, wenn wir uns auf der Straße der Dichter begegneten oder für uns sitzend in der hallenden Leere der Speisekuppel aßen.
Morde und Verschwinden gingen weiter, im Durchschnitt etwa einer alle vierzehn lokalen Tage, doch wurden die Opfer für gewöhnlich nicht von uns gefunden, sondern vom regionalen SST-Kommandanten, der alle paar Wochen auf einer Zählung der Bevölkerung bestand.
Das Bild, das mir von dieser Zeit am deutlichsten im Gedächtnis geblieben ist, ist ein ungewöhnlich gemeinschaftliches: die Nacht, in der wir uns alle auf dem Versammlungsplatz einfanden und zusahen, wie das Saatschiff startete. Es war der Höhepunkt der herbstlichen Meteorsaison, Hyperions Nachthimmel leuchtete bereits in goldenen Streifen und rotem Flammengekritzel, als die Triebwerke des Saatschiffs zündeten und eine winzige Sonne aufging; danach beobachteten wir eine Stunde lang, wie Freunde und Künstlerkollegen mit dem Schweif einer Fusionsflamme entschwanden. Der Traurige König Billy leistete uns in dieser Nacht Gesellschaft, und ich kann mich noch gut erinnern, dass er mich ansah, bevor er feierlich in seine prunkvolle Kutsche stieg, die ihn ins sichere Keats zurückbrachte.
In den darauffolgenden zwölf Jahren verließ ich die Stadt nur ein halbes Dutzend Mal; einmal, um einen Biobildhauer zu suchen, der mir die Satyrauswüchse abnehmen konnte, die anderen Male, um Nahrungsmittel und Vorräte zu kaufen.
Mittlerweile hatte der Tempel des Shrike die Pilgerfahrten zum Shrike wieder aufgenommen, und ich benützte bei meinen Ausflügen ihre Prachtstraße in den Tod in umgekehrter Richtung: zu Fuß zum
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