Die Hyperion-Gesänge
Tränen vergossen, von denen Sol irgendwie wusste. Sarai hatte jeden Abschnitt von Rachels Kindheit genossen,
hatte das normale Alltagsleben geschätzt – eine Normalität, die sie still als das Beste im Leben akzeptierte. Sie war stets der Meinung gewesen, dass die Essenz menschlicher Erfahrung nicht primär in den Höhepunkten lag, den Hochzeitstagen und Triumphen, die wie rot im Kalender angestrichene Tage herausragten, sondern mehr im nebensächlichen Strom von Kleinigkeiten – dem Wochenendnachmittag, den jedes Familienmitglied auf seine Weise verbrachte, mit zufälligen und unwichtigen Begegnungen und nebensächlichen Gesprächen – Stunden, deren Summe eine Synergie schuf, die wichtig und ewig war.
Sol fand Sarai auf dem Dachboden, wo sie leise weinte, während sie in Kartons suchte. Es waren jedoch nicht die sanften Tränen, die sie einst am Ende kleiner Dinge vergossen hatte. Sarai Weintraub war wütend.
»Was machst du da, Mutter?«
»Rachel braucht Kleider. Alles wird ihr zu groß. Was einer Achtjährigen passt, passt einer Siebenjährigen nicht. Ich habe hier noch irgendwo welche von ihren Sachen.«
»Lass doch«, sagte Sol. »Wir kaufen ihr etwas Neues.«
Sarai schüttelte den Kopf. »Damit sie sich jeden Tag fragt, wohin ihre Lieblingskleider verschwunden sind? Nein. Ich habe ein paar Sachen aufgehoben. Sie müssen hier irgendwo sein.«
»Mach es später.«
»Verdammt, es gibt kein ›später‹!«, brüllte Sarai, wandte sich von Sol ab und schlug die Hände vors Gesicht. »Tut mir leid.«
Sol legte die Arme um sie. Trotz der begrenzten Poulsen-Behandlung waren ihre Arme dünner, als er in Erinnerung hatte. Knoten und Stränge unter der rauhen Haut. Er umarmte sie fest.
»Es tut mir leid«, sagte sie noch einmal und schluchzte unverhohlen. »Es ist einfach nicht fair .«
»Nein«, stimmte Sol zu. »Es ist nicht fair.« Das Sonnenlicht,
das durch die staubigen Fenster hereinfiel, hatte etwas Trauriges, wie in einer Kathedrale. Sol hatte den Geruch des Dachbodens immer gemocht – das heiße und stickige Versprechen eines so wenig benützten und mit zukünftigen Schätzen vollgestopften Raums. Heute sah er nur Verfall.
Er kauerte sich neben einen Karton. »Komm, Liebes«, sagte er, »wir suchen gemeinsam.«
Rachel war auch weiterhin glücklich, nahm regen Anteil am Leben und war nur leicht durch Ungereimtheiten verwirrt, denen sie sich jeden Morgen nach dem Aufwachen gegenübersah. Je jünger sie wurde, desto leichter fiel es, die Veränderungen wegzuerklären, die scheinbar über Nacht stattgefunden hatten – dass die alte Ulme vor dem Haus fort war, das neue Mietshaus an der Ecke, wo Mr. Nesbitt in einer Villa aus der Kolonialzeit gelebt hatte –, und Sol erlebte wie noch niemals zuvor, wie flexibel Kinder sein konnten. Er stellte sich jetzt vor, wie Rachel auf dem Gipfel der Welle der Zeit ritt, die trüben Tiefen des Meeres dahinter nicht sah und das Gleichgewicht mit dem kleinen Archiv ihrer Erinnerungen und einer völligen Hingabe an die zwölf bis fünfzehn Stunden des Jetzt hielt, die ihr jeden Tag gegeben wurden.
Weder Sol noch Sarai wollten, dass ihre Tochter von anderen Kindern isoliert wurde, aber es war schwierig, Wege zu finden, einen Kontakt herzustellen. Rachel war entzückt, wenn sie mit dem »neuen Mädchen« oder »neuen Jungen« in der Nachbarschaft spielen konnte – den Kindern anderer Professoren, Enkel von Freunden, eine Zeitlang mit Nikis Tochter –, aber die anderen Kinder mussten sich daran gewöhnen, dass Rachel sie jeden Tag aufs neue kennenlernen musste, sich nicht an ihre gemeinsame Vergangenheit erinnern konnte, und nur die wenigsten waren verständig genug, diesen Mummenschanz für eine Spielkameradin mitzumachen.
Die Geschichte von Rachels außergewöhnlicher Krankheit war in Crawford selbstverständlich kein Geheimnis. Die Neuigkeit hatte schon im ersten Jahr nach Rachels Rückkehr am College die Runde gemacht, wenig später wusste es die ganze Stadt. Crawford reagierte auf die Weise, wie Kleinstädter zu allen Zeiten auf so etwas reagiert haben – manche Münder standen nicht still, manche Menschen konnten Mitleid oder Schadenfreude angesichts des schlimmen Loses eines anderen nicht aus Blicken und Stimmen fernhalten –, doch ansonsten faltete die Gemeinde weitgehend ihre schützenden Fittiche um die Weintraubs wie eine linkische Vogelmutter, die ihr Junges beschützt.
Man ließ sie ihr Leben leben, und selbst als Sol seinen
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