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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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seines Heimatplaneten verlassen hat …
    War es eine so gravierende Sünde, derart vieldeutige Daten in einer Weise zu interpretieren, die das Wiedererstarken des Christentums noch zu unseren Lebzeiten bewirken hätte können?
    Ja, das war es. Aber nicht, so glaube ich, wegen der Sünde, die Daten zu verfälschen, sondern wegen der schwerwiegenderen Sünde zu glauben, dass das Christentum gerettet werden könnte. Die Kirche stirbt, Edouard. Und nicht allein unser geliebter Zweig des Heiligen Baums, sondern sämtliche Auswüchse, Triebe und Wurzeln. Der gesamte Leib des Christentums
stirbt so gewiss wie mein armer, verbrauchter Leib stirbt, Edouard. Du und ich, wir haben das auf Armaghast gewusst, wo die blutige Sonne nur Staub und Tod beschienen hat. Wir wussten es in diesem kühlen, grünen Sommer im Seminar, als wir unsere ersten Gelübde abgelegt hatten. Wir wussten es als Knaben auf den ruhigen Spielplätzen von Villefranche-sur-Saône. Wir wissen es jetzt.
    Das Licht ist erloschen; ich muss im schwachen Schein des Salonfensters ein Deck höher schreiben. Die Sterne bilden seltsame Konstellationen. Das mittlere Meer erglüht des Nachts in einer grünlichen, ungesunden Phosphoreszenz. Im Südosten zeichnet sich eine dunkle Masse am Horizont ab. Es könnte ein Sturm oder die nächste Insel der Kette sein, der dritte der Neun Schwänze. (In welcher Mythologie kommt eine neunschwänzige Katze vor? Ich kenne keine.)
    Um des Vogels willen, den ich vorhin gesehen habe – wenn es denn ein Vogel war –, bete ich, dass eine Insel vor uns liegt, kein Sturm.
     
    TAG 28:
    Ich bin seit acht Tagen in Port Romance und habe schon drei Tote gesehen.
    Der erste war ein am Strand angespülter Leichnam, eine aufgedunsene, weiße Parodie eines Menschen, der an meinem ersten Abend in der Stadt in den Uferschlamm hinter dem Ankerturm getrieben wurde. Kinder haben Steine danach geworfen.
    Beim zweiten habe ich gesehen, wie er in der Nähe meines Hotels aus den ausgebrannten Trümmern eines Methaneinheiten-Geschäfts in der ärmeren Region der Stadt gezogen wurde. Sein Körper war zur Unkenntlichkeit verkohlt und infolge der Hitze zusammengeschrumpelt, Arme und Beine straff zu jener Preisboxerhaltung zusammengezogen, die Opfern
von Feuer seit urdenklichen Zeiten eigen ist. Ich hatte den ganzen Tag gefastet und muss zu meiner Schmach gestehen, dass mir das Wasser im Mund zusammenzulaufen begann, als ich das Bratfettaroma verbrannten Fleisches roch.
    Der dritte Mann wurde keine drei Meter von mir entfernt ermordet. Ich war gerade aus dem Hotel auf den Irrgarten lehmverspritzter Planken getreten, die in dieser erbärmlichen Stadt als Gehwege dienen, als Schüsse zu hören waren und ein Mann mehrere Schritte von mir entfernt emporschnellte, als wäre er mit dem Fuß ausgeglitten, mit verwirrtem Gesichtsausdruck zu mir herumwirbelte und seitlich in Schlamm und Abwasser kippte.
    Er hatte drei Schüsse aus einer Art Projektilwaffe abbekommen. Zwei Kugeln waren ihm in die Brust gedrungen, die dritte steckte unterhalb des linken Auges. Unfassbar, aber er atmete noch, als ich bei ihm war. Ohne nachzudenken holte ich die Stola aus meiner Tragetasche, suchte nach der Weihwasserphiole, die ich schon so lange bei mir trug, und machte mich daran, das Sakrament der Letzten Ölung durchzuführen. Niemand in der versammelten Menge erhob Einwände. Der gestürzte Mann zuckte und räusperte sich, als wollte er etwas sagen – und starb. Die Menge hatte sich verlaufen, noch ehe der Leichnam abtransportiert wurde.
    Der Mann war mittleren Alters, hatte sandfarbenes Haar und war leicht übergewichtig. Er trug keine Identifizierung bei sich, nicht einmal eine Universalkarte oder ein Komlog. Er hatte sechs Silbermünzen in der Tasche.
    Aus unerfindlichen Gründen beschloss ich, den Rest des Tages bei dem Toten zu bleiben. Der Arzt war ein kleiner, zynischer Mann, der mir erlaubte, bei der vorgeschriebenen Autopsie anwesend zu sein. Ich vermute, er sehnte sich nach Unterhaltung.
    »Mehr als das hier ist es nicht wert«, sagte er, während er
den Bauch des unglücklichen Mannes wie einen rosa Sack aufschnitt und die Hautfalten und Muskeln zurückklappte und feststeckte wie Zeltplanen.
    »Was?«, fragte ich.
    »Sein Leben«, sagte der Arzt und zog die Gesichtshaut des Leichnams ab wie eine fettige Maske. »Ihr Leben. Mein Leben.« Um das ungleichmäßige Loch dicht über dem Wangenknochen wurden die roten und weißen Streifen überlappender Muskeln blau wie

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