Die Hyperion-Gesänge
klaubt mit blutigen Fingernägeln an den Kruziformen auf Brust und Rücken. Die kreuzförmigen Wülste scheinen im roten Licht zu glühen. Hoyt kann die Flammen unten hören.
»Hoyt!«
Er dreht sich schluchzend um und sieht den Umriss der Frau – Lamia – im Türrahmen. Sie sieht an ihm vorbei, hinter ihn, und hebt die antike Pistole. Ihre Augen sind weit aufgerissen.
Pater Hoyt spürt die Hitze hinter sich, hört das Prasseln eines fernen Heizofens, aber über alldem hört er plötzlich das Schaben von Metall auf Stein. Schritte. Hoyt, der immer noch an dem blutigen Wulst auf der Brust krallt, dreht sich um und scheuert sich dabei die Knie am Boden wund.
Den Schatten sieht er zuerst: zehn Meter scharfkantige Winkel, Dornen, Klingen – Beine wie Stahlrohre mit einer Rosette aus scharfen Klingen an den Knien und Knöcheln. Dann sieht er im Pulsieren von heißem Rotlicht und schwarzen Schatten die Augen. Hundert Facetten … tausend … leuchten rot, ein Laser hinter zwei Rubinen über dem Kragen aus Dornen und der Quecksilberbrust, in der sich Flammen und Schatten spiegeln …
Brawne Lamia feuert die Pistole ihres Vaters ab. Das Knallen der Schüsse tönt hoch und eindimensional über dem Brausen des Feuerofens.
Pater Lenar Hoyt wirbelt zu ihr herum und hebt eine Hand. »Nein, nicht!«, schreit er. »Es gewährt einen Wunsch! Ich muss einen …«
Das Shrike, das dort war – fünf Meter entfernt –, ist plötzlich hier , eine Armeslänge von Hoyt entfernt. Lamia hört auf zu schießen. Hoyt schaut auf, sieht sein Spiegelbild im feuergetönten Panzer des Dings … sieht im selben Moment etwas anderes in den Augen des Shrike … und dann ist es fort, das Shrike ist fort, und Hoyt hebt langsam die Hand, greift sich fast nachdenklich an den Hals, betrachtet eine Sekunde den roten Springbrunnen, der seine Hand benetzt, seine Brust, die Kruziform, den Bauch …
Er dreht sich zur Tür um und sieht Lamia, die immer noch voll Entsetzen und Schock geradeaus starrt, aber jetzt nicht mehr auf das Shrike, sondern auf ihn, Pater Lenar Hoyt von der Gesellschaft Jesu, und im selben Moment stellt er fest, dass die Schmerzen weg sind, und er macht den Mund auf, um zu sprechen, aber es kommt nur noch mehr Rot heraus, ein zischender roter Geysir. Hoyt sieht wieder an sich hinab, stellt zum ersten Mal fest, dass er nackt ist, sieht das Blut von Kinn und Brust tropfen, tropfen und auf den jetzt dunklen Boden strömen, sieht das Blut fließen, als hätte jemand einen Eimer mit roter Farbe ausgeschüttet, und dann sieht er nichts mehr, als er Gesicht voraus auf den weit … so weit … entfernten Boden fällt.
6
Diana Philomels Körper war so perfekt, wie ihn ein Schönheitschirurg und die Fähigkeiten eines ARNisten nur machen konnten. Nachdem ich aufgewacht war, blieb ich mehrere Minuten lang im Bett liegen und bewunderte ihren Körper. Er war von mir abgewendet, die klassischen Kurven von Rücken, Hüften und Flanke bildeten eine schönere und faszinierendere Geometrie als sämtliche Entdeckungen von Euklid; zwei
Grübchen am Rückenansatz, direkt über dem atemberaubenden milchigen Weiß der Kehrseite, sanfte, ineinandergreifende Winkel, die Unterseiten voller Schenkel, die irgendwie sinnlicher und solider waren, als es ein Aspekt der männlichen Anatomie je sein konnte.
Lady Diana schlief oder schien zu schlafen. Unsere Kleidung lag über ein großes Stück des grünen Teppichbodens verstreut. Magenta- und blaugetöntes, intensives Licht fiel durch breite Fenster herein, hinter denen graue und goldene Baumkronen zu sehen waren. Große Bögen Zeichenpapier lagen neben, unter und auf unseren Kleidungsstücken verteilt. Ich beugte mich nach links, hob eines der Blätter hoch und sah eine hastige Kritzelei von Brüsten, Schenkeln, einem in Eile verbesserten Arm und einem Gesicht ohne Züge. Einen Akt zu zeichnen, wenn man betrunken ist und gerade verführt wird, ist nicht unbedingt ein Garant für Qualität und Kunst.
Ich stöhnte, drehte mich auf den Rücken und betrachtete die Stuckverzierungen an der Decke dreieinhalb Meter über mir. Wäre die Frau neben mir Fanny gewesen, hätte ich mich vielleicht nie wieder von der Stelle bewegen wollen. So aber schlüpfte ich unter der Decke hervor, fand mein Komlog, stellte fest, dass es auf Tau Ceti Center früher Morgen war – vierzehn Stunden nach meinem Termin bei der Präsidentin –, und machte mich auf die Suche nach einer Katerpille ins Bad auf.
In
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