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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Sommerfäden breiteten hauchfeine Membranen aus, die Sonnenlicht einfingen. Ein Schwarm Raben flatterte aus der Deckung himmelwärts, ihre Schreie bildeten einen schrillen Kontrapunkt zur sanften Brise und dem fernen Rauschen des Regens, der sich Gladstone von Westen näherte. Das beharrliche Prasseln von Regentropfen auf Laub erinnerte sie an ihr eigenes Zuhause in den Deltas von Patawpha, den Hundert-Tage-Monsun, bei dem sie und ihre Brüder in die Wälder gegangen waren, um Krötenflieger, Bendits und spanische
Moosschlangen zu fangen, die sie in Gläsern mit in die Schule nahmen.
    Gladstone dachte zum hunderttausendsten Mal, dass es noch Zeit war, alles aufzuhalten. Im derzeitigen Zustand war der totale Krieg nicht unvermeidlich. Die Ousters hatten noch nicht auf eine Weise zurückgeschlagen, die die Hegemonie nicht außer Acht lassen konnte. Das Shrike war nicht frei. Noch nicht.
    Wenn sie hundert Milliarden Leben retten wollte, musste sie nur in den Senat zurückkehren, drei Jahrzehnte Täuschung und Doppelspiel enthüllen, ihre Ängste und Unsicherheit bloßlegen …
    Nein. Es würde weitergehen wie geplant, bis es nicht mehr zu planen war. Bis es ins Unvorhersehbare ging. In die Wildwasser des Chaos, wo selbst die Vorherseher des TechnoCore, die alles sahen, blind sein würden.
    Gladstone ging die Plattformen, Türme, Rampen und Hängebrücken der Baumstadt der Tempelritter entlang. Baumbewohner von einem Dutzend Welten und ARNisierte Schimpansen keiften sie an und flohen anmutig schwingend auf dünnen Ranken dreihundert Meter über dem Waldboden. Aus den für Touristen und privilegierte Besucher abgesperrten Zonen nahm Gladstone den Duft von Weihrauch wahr und hörte deutlich die quasigregorianischen Gesänge des Sonntagsgottesdiensts der Tempelritter. Unter ihr erwachten die tieferen Etagen zu Licht und Leben. Die kurzen Regenschauer waren weitergezogen, und Gladstone begab sich wieder auf die oberen Etagen, genoss den Ausblick und überquerte eine sechzig Meter lange Hängebrücke aus Holz zu einem Baum, der noch höher war als ihrer, wo ein halbes Dutzend Heißluftballons – die einzigen Flugzeuge, die die Tempelritter auf God’s Grove duldeten – festgezurrt waren und darauf zu brennen schienen, endlich loszukönnen; ihre Passagierzellen schwangen
wie schwere braune Eier, die Häute der Ballons waren liebevoll wie Lebewesen bemalt: Montgolfieren, Königsschmetterlinge, Thomasfalken, Leuchtfäden, die inzwischen ausgestorbenen Zeplens, Himmelstintenfische, Mondmotten, Adler – die so fest in Legenden verwurzelt waren, dass sie nie wiederbelebt oder ARNisiert worden waren – und mehr.
    Das alles könnte zerstört werden, wenn ich weitermache, dachte sie. Wird zerstört werden.
    Gladstone verweilte am Rand der kreisförmigen Plattform und umklammerte das Geländer so fest, dass sich die Altersflecken auf ihrer Haut deutlich von der plötzlich blassen Haut abhoben. Sie dachte an die alten Bücher, die sie gelesen hatte, Prä-Hegira, Prä-Raumfahrt, wo die Menschen winziger Staaten auf dem Kontinent Europa dunkelhäutige Menschen  – Afrikaner – von ihren Heimatländern verschleppt und zu einem Sklavendasein im kolonialistischen Westen gezwungen hatten. Hätten diese angeketteten und geknechteten, nackten und im stinkenden Rumpf eines Schiffes zusammengerollten Sklaven gezögert, einen Aufstand anzufangen, das schöne Sklavenschiff zu zerstören – möglicherweise Europa selbst?
    Aber sie konnte immer noch nach Afrika zurückkehren …
    Meina Gladstone stieß einen Laut, halb Stöhnen und halb Schluchzen, aus. Sie wandte sich wirbelnd von dem strahlenden Sonnenuntergang ab, von den Geräuschen, die einen neuen Tag begrüßten, von den emporschwebenden Ballons – lebend und künstlich –, die dem Himmel zustrebten, und ging nach unten, in die relative Dunkelheit, um ihren Farcaster erscheinen zu lassen.
     
    Dorthin, wo der letzte Pilger, Martin Silenus, herstammte, konnte sie nicht gehen. Silenus war nur anderthalb Jahrhunderte alt, aber schon ganz blau von Poulsen-Behandlungen,
und seine Zellen erinnerten sich an die kalte Gefrierphase von einem Dutzend kryonischen Fugen und sogar Kältelagerungen, doch sein Leben umfasste mehr als vier Jahrhunderte. Er war während der Endzeit auf der Alten Erde geboren worden, seine Mutter gehörte einer der edelsten Familien an, seine Jugend war ein Zerrbild von Dekadenz und Eleganz, Schönheit und dem süßlichen Geruch des Verfalls. Seine Mutter

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