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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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hatte.
    Gladstone überquerte eine zierliche Steinbrücke über einen im Schatten verborgenen Bach, dessen Verlauf nur an seinem Plätschern im Dunkeln zu erahnen war. Sanftes gelbliches Licht fiel auf Geländer aus handgemeißeltem Stein. Irgendwo außerhalb des Campus bellte ein Hund und wurde zum Schweigen gebracht. Im dritten Stock eines alten Hauses brannte Licht – ein Backsteingebäude mit Giebeln und einem Ziegeldach, das noch aus der Zeit vor der Hegira stammen musste.
    Gladstone dachte an Sol Weintraub und Sarai und ihre wunderschöne sechsundzwanzigjährige Tochter, die nach einem Jahr archäologischer Entdeckungsfahrt auf Hyperion ohne Entdeckungen nach Hause zurückkehrte, dafür aber mit dem Fluch des Shrike: Merlins Krankheit. Sol und Sarai, die mitansehen mussten, wie die Frau rückwärts alterte, zur Jugendlichen wurde, zum Kind, zum Kleinkind. Und dann Sol allein, nachdem Sarai bei einem sinnlosen, dummen EMV-Unfall ums Leben gekommen war, als sie ihre Schwester besucht hatte.
    Rachel Weintraub, deren nullter und letzter Geburtstag in weniger als drei Standardtagen sein würde.
    Gladstone schlug mit der Faust auf Stein, zauberte das Portal herbei und trat hindurch.
     
    Auf dem Mars war es Mittag. Die Elendsviertel von Tharsis waren schon seit sechs Jahrhunderten oder länger Elendsviertel. Der Himmel war rosa, die Luft zu dünn und zu kalt für Gladstone, obwohl sie das Cape eng um den Hals geschlungen hatte,
und überall wehte Staub. Sie schritt durch die schmalen Gassen und Klippenstege von Relocation City, fand aber nirgends eine freie Fläche, wo sie weiter sehen konnte als bis zur nächsten Gruppe von Schuppen oder tropfenden Filtertürmen.
    Es gab kaum Pflanzen hier – die großen Wälder der Begrünung waren für Feuerholz gefällt worden oder abgestorben und von rotem Sand bedeckt. Nur einige geschmuggelte Kakteen und wuschelige Dickichte parasitärer Spinnenflechte waren zwischen Wegen sichtbar, die von zwanzig Generationen bloßer Füße festgetreten worden waren.
    Gladstone fand einen flachen Felsbrocken, ruhte sich aus, senkte den Kopf und massierte sich die Knie. Scharenweise wurde sie von Kindern umringt, die nackt waren, abgesehen von Streifen und Fetzen und baumelnden Steckerkabeln, und die Geld von ihr erbettelten und kichernd wegliefen, als sie nicht reagierte.
    Die Sonne stand hoch. Mons Olympus und die herbe Schönheit von Oberst Kassads FORCE-Akademie waren von hier nicht zu sehen. Gladstone blickte sich um. Von hier stammte der stolze Mann. Hier war er mit Jugendbanden herumgezogen, bevor er zu Ordnung, Strenge und der Ehre des Militärs verurteilt worden war.
    Gladstone fand einen abgeschiedenen Ort und schlenderte durch ihr Portal.
     
    God’s Grove war – wie immer – vom Duft von Millionen und Abermillionen Bäumen erfüllt; still, abgesehen vom Rascheln von Laub und dem Wind; in Halb- und Pastelltönen gehalten; der Sonnenaufgang entflammte das buchstäbliche Dach der Welt, da ein Meer von Baumkronen das Licht einfing, jedes Blatt in der Brise leuchtete und in der Feuchtigkeit von Tau und Morgenregen funkelte, während der Wind zunahm und den Geruch von Regen und nasser Vegetation
zu Gladstone hoch über einer Welt emportrug, die einen halben Kilometer tiefer noch in Schlaf und Dunkelheit versunken war.
    Ein Tempelritter kam näher, sah Gladstones Zugangsarmband funkeln, als diese die Hand bewegte, und zog sich wieder zurück – eine große Gestalt in langer Robe, die mit dem Labyrinth von Laub und Ranken verschmolz.
    Die Tempelritter waren eine der kompliziertesten Variablen in Gladstones Spiel. Dass sie das Baumschiff Yggdrasil geopfert hatten, war außergewöhnlich, einmalig, unerklärlich und beunruhigend. Von allen potenziellen Verbündeten im bevorstehenden Krieg waren die Tempelritter am dringendsten erforderlich und am unergründlichsten. Die Bruderschaft des Baums, die dem Leben und Muir ergeben war, bildeten eine kleine, aber bedeutende Macht im Netz – ein Funke ökologischen Bewusstseins in einer Gesellschaft, die sich Selbstzerstörung und Ausbeutung verschrieben hatte, aber nicht willens war, ihre verderblichen Wege einzusehen.
    Wo war Het Masteen? Warum hatte er den Möbiuskubus bei den anderen Pilgern gelassen?
    Gladstone betrachtete den Sonnenaufgang. Der Himmel füllte sich mit vereinsamten Montgolfieren, die vor dem Gemetzel auf Whirl gerettet worden waren und deren bunte Leiber wie Papierlampions in die Höhe stiegen. Leuchtende

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