Die Hyperion-Gesänge
Gräber erstrahlten hell und wurden dann dunkler, ein Grab nach dem anderen, ohne ersichtliche Reihenfolge oder Ordnung. Gelegentlich setzte der Sog der Zeitgezeiten beiden Männern zu, sodass sie stöhnten und sich am Stein festklammerten, aber die Wogen von déjà vu und Schwindelgefühl ließen nach wenigen Augenblicken wieder nach.
Da Brawne Lamia durch das mit ihrem Schädel verschweißte Kabel mit der Sphinx verbunden war, konnten sie nicht gehen.
Irgendwann vor der Dämmerung brachen die Wolken auf, und der Himmel wurde sichtbar; die dichten Sternbilder wirkten in ihrer Klarheit fast schmerzlich. Eine Zeitlang waren Fusionsstreifen – schmale Diamantkratzer auf der Glasscheibe der Nacht – die einzigen Hinweise auf die gewaltigen kriegführenden Flotten da oben, aber dann entfalteten sich wieder die Blüten ferner Explosionen und binnen einer Stunde wurde das Leuchten der Zeitgräber von den Ausbrüchen am Himmel überstrahlt.
»Was meinen Sie, wer wird siegen?«, fragte Pater Duré. Die beiden Männer saßen mit den Rücken an der Steinmauer der Sphinx und sahen zu dem Abschnitt des Himmels empor, der zwischen den vorwärtsgekrümmten Schwingen des Grabs zu sehen war.
Sol streichelte Rachel, die auf dem Bauch schlief und unter der Decke den Po hochstreckte, den Rücken. »Nach dem, was die anderen sagen, scheint vorherbestimmt zu sein, dass das Netz einen schrecklichen Krieg erdulden muss.«
»Demnach glauben Sie an die Vorhersagen des KI-Ratskonzils?«
Sol zuckte mit den Achseln. »Ich weiß eigentlich nichts über
Politik – oder die Genauigkeit von Vorhersagen des Core. Ich bin ein unbedeutender Gelehrter an einem kleinen College auf einer Hinterwäldlerwelt. Aber ich habe das Gefühl, dass uns etwas Schreckliches bevorsteht – dass eine grimmige Bestie gen Bethlehem in ihre Geburt schlampt.«
Duré lächelte. »Yeats«, sagte er. Das Lächeln erlosch. »Ich vermute, dieser Ort ist das neue Bethlehem.« Er sah das Tal hinab zu den leuchtenden Gräbern. »Ich habe mein Leben lang die Theorien St. Teilhards über die Evolution hin zum Punkt Omega gelehrt. Stattdessen haben wir dies hier. Menschliche Narretei am Himmel und einen schrecklichen Antichrist, der darauf wartet, den Rest zu erben.«
»Sie glauben, dass das Shrike der Antichrist ist?«
Pater Duré legte die Ellbogen auf die angezogenen Knie und faltete die Hände. »Wenn nicht, stecken wir alle in ernsten Schwierigkeiten.« Er lachte verbittert. »Es ist noch nicht lange her, da wäre ich begeistert gewesen, einen Antichrist zu entdecken … Sogar die Präsenz einer antigöttlichen Macht hätte ausgereicht, meinen schwindenden Glauben an jedwede Form einer Gottheit zu stützen.«
»Und jetzt?«, fragte Sol leise.
Duré spreizte die Finger. »Bin auch ich gekreuzigt worden.«
Sol dachte an die Bilder aus Lenar Hoyts Geschichte von Duré; wie sich der alte Jesuit selbst an den Teslabaum genagelt und jahrelang Qual und Wiedergeburt erduldet hatte, statt sich dem DNS-Parasiten der Kruziform zu ergeben, der noch jetzt unter der Haut seiner Brust lag.
Duré wandte das Gesicht vom Himmel ab. »Keine Begrüßung durch einen himmlischen Vater«, sagte er leise. »Keine Versicherung, dass sich Schmerz und Opfer gelohnt hätten. Nur Qual. Qual und Dunkelheit und dann wieder Qual.«
Sols Hand verweilte still auf dem Rücken des Säuglings. »Und darum haben Sie Ihren Glauben verloren?«
Duré sah Sol an. »Im Gegenteil, ich kam zur Überzeugung, dass Glaube noch wichtiger ist. Qual und Dunkelheit sind unser Los seit dem Sündenfall der Menschheit. Aber es muss eine Hoffnung geben, dass wir uns auf eine höhere Ebene entwickeln können – dass das Bewusstsein sich auf eine Stufe entwickeln kann, die gütiger ist als ein von Gleichgültigkeit erfülltes Universum.«
Sol nickte langsam. »Während Rachels langem Kampf mit Merlins Krankheit hatte ich einen Traum … meine Frau Sarai hatte denselben Traum … dass ich aufgefordert wäre, meine einzige Tochter zu opfern.«
»Ja«, sagte Duré. »Ich habe mir die Zusammenfassung des Konsuls auf Disk angehört.«
»Dann kennen Sie meine Antwort«, sagte Sol. »Erstens, dass man Abrahams Pfad des Gehorsams nicht mehr folgen kann, auch wenn ein Gott diesen Gehorsam fordert. Zweitens, dass wir diesem Gott zu viele Generationen lang Opfer dargeboten haben – dass die Vergeltung mit Schmerzen ein Ende haben muss.«
»Und doch sind Sie hier«, sagte Duré und deutete ins Tal, zu den
Weitere Kostenlose Bücher