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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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dort befanden, wo Gott Augen vorgesehen hatte.
    Dann bewegte es sich … Oder besser gesagt, es bewegte sich nicht, sondern hörte auf, »da« zu sein, und war »hier«, stand keinen Meter von mir entfernt, seine Arme mit den seltsamen Gelenken umgaben mich mit einem Zaun von Klingen und flüssigem silbernem Stahl. Schwer keuchend, aber außerstande, Luft zu holen, sah ich mein eigenes Spiegelbild, das weiße, verzerrte Gesicht tanzte über die Oberfläche des Metallpanzers des Dings und seine brennenden Augen.
    Ich muss gestehen, ich empfand etwas, das einem Hochgefühl näher war als Angst. Etwas Unerklärliches ging hier vor. Ich, in jesuitischer Logik geschmiedet und im Kältebad der Wissenschaft gehärtet, begriff in diesem Augenblick das uralte Verlangen eines jeden gottesfürchtigen Menschen nach einer anderen Art von Furcht: dem Kitzel des Exorzismus, dem gedankenlosen Strudel der Derwisch-Besessenheit, dem Marionettentanzritual des Tarot und der fast erotischen Unterwerfung
von Seancen, dem Zungenreden und der Trance der Zen-Gnostiker. In diesem Moment wurde mir klar, wie gewisslich die Bestätigung von Dämonen oder die Beschwörung Satans die Wirklichkeit ihrer mystischen Antithese – des Gottes Abrahams – bestätigen kann.
    Das alles dachte ich nicht, aber empfand es, während ich die Umarmung des Shrike mit dem unmerklichen Zittern einer jungfräulichen Braut erwartete.
    Es verschwand.
    Kein Donnerschlag, kein plötzlicher Schwefelgeruch, nicht einmal der wissenschaftliche Sog der einströmenden Luft. Eben war das Ding noch da, umringte mich mit seiner wunderschönen Gewissheit des scharfkantigen Todes – und im nächsten Augenblick war es fort.
    Ich stand benommen da und blinzelte, während Alpha aufstand und in der Düsternis eines Bosch auf mich zukam. Er stand da, wo das Shrike gestanden hatte, und hatte die Arme in einer jämmerlichen Imitation der tödlichen Perfektion ausgebreitet, deren Zeuge ich gerade geworden war, aber Alphas leeres Bikuragesicht ließ nicht erkennen, ob er die Kreatur gesehen hatte. Er machte eine linkische Geste mit offenen Händen, die das Labyrinth, die Höhlenwand und die Dutzende leuchtenden Kreuze einzuschließen schien, die darin eingebettet waren.
    »Kruziform«, sagte Alpha. Die Fünf Dutzend und Zehn standen auf, kamen näher und knieten wieder. Ich betrachtete ihre ausdruckslosen Gesichter im sanften Lichtschein und kniete ebenfalls nieder.
    »Du wirst alle Tage dem Kreuz folgen«, sagte Alpha, dessen Stimme die Kadenz einer Litanei angenommen hatte. Die anderen Bikura wiederholten die Feststellung in einer Tonlage, die fast einem Singsang gleichkam.
    »Du wirst alle Tage zur Kruziform gehören«, sagte Alpha,
die anderen wiederholten es und zogen eine kleine Kruziform von der Höhlenwand weg. Diese war kaum mehr als zehn Zentimeter lang und löste sich mit einem leisen Saugen von der Wand. Ihr Leuchten erlosch vor meinen Augen. Alpha holte eine kurze Schnur aus dem Gewand, band sie um kleine Knöpfchen am oberen Ende der Kruziform und hielt das Kreuz über meinen Kopf. »Du wirst von nun an bis in Ewigkeit zur Kruziform gehören«, sagte er.
    »Von nun an bis in Ewigkeit«, wiederholten die Bikura.
    »Amen«, flüsterte ich.
    Beta bedeutete mir, dass ich das Oberteil meines Gewands öffnen sollte. Alpha ließ das kleine Kreuz sinken, bis es mir um dem Hals hing. Es fühlte sich kalt auf meiner Brust an; sein Rücken war makellos flach, makellos glatt.
    Die Bikura standen auf und begaben sich zum Eingang der Höhle – sie waren offenbar wieder apathisch und gleichgültig. Ich sah ihnen nach, dann berührte ich zaghaft das Kreuz, hob es, betrachtete es. Die Kruziform war kühl, starr. Wenn sie gerade tatsächlich noch gelebt hatte, war jetzt nichts mehr davon zu spüren. Es fühlte sich mehr wie Koralle denn Kristall oder Stein an; auf dem glatten Rücken war nichts von einem adhäsiven Material zu spüren. Ich spekulierte über photochemische Effekte, die das Leuchten erzeugt haben konnten. Ich spekulierte über natürlichen Phosphor, Biolumineszenz und die Möglichkeit, dass die Evolution so etwas hervorbringen konnte. Ich spekulierte darüber, was, wenn überhaupt, ihre Anwesenheit hier mit dem Labyrinth zu tun hatte und die Äonen, die erforderlich waren, dieses Plateau zu heben, damit der Fluss und der Canyon durch einen der Tunnel schneiden konnten. Ich spekulierte über die Basilika und deren Erbauer, über die Bikura, über das Shrike und über

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