Die Hyperion-Gesänge
Geschichte von Grendel verfrüht ist. Die Darsteller sind noch nicht auf der Bühne versammelt. Nichtlinearer Handlungsaufbau und zähe Prosa haben ihre Anhänger, von denen nicht zuletzt ich einer bin, aber letztendlich, meine Freunde, sind es die Figuren, die dem Velin Unsterblichkeit sichern oder verweigern. Habt ihr nicht auch schon einmal den heimlichen Gedanken gehabt, dass Huck
und Jim in diesem Augenblick gerade außerhalb unserer Reichweite mit ihrem Floß irgendeinen Fluss befahren und wirklicher sind als der Schuhverkäufer, der uns eines vergessenen Tages bedient hat? Wie dem auch sei, wenn diese Scheißgeschichte schon erzählt werden muss, solltet ihr wenigstens wissen, wer darin vorkommt. Daher werde ich – wie sehr es mich auch schmerzt – noch einmal von vorne anfangen.
Am Anfang war das Wort. Und das Wort war im klassischen Binärcode programmiert. Und das Wort lautete: »Es werde Leben!« Und so wurde irgendwo in den TechnoCore-Grüften auf dem Anwesen meiner Mutter eingefrorenes Sperma meines längst verschiedenen Daddy aufgetaut, in Suspension versetzt, durchgeschüttelt wie das Vanillemalz vergangener Tage, in etwas geladen, das teils Spritzpistole und teils Dildo war, und – nach der magischen Berührung mit einem Finger – in Mutter ejakuliert, als der Mond voll und die Eizelle reif war.
Mutter hätte sich natürlich nicht auf diese barbarische Weise befruchten lassen müssen. Sie hätte sich für eine Ex-utero-Befruchtung entscheiden können, einen männlichen Liebhaber mit einem Transplant der DNS meines Vaters, ein Klonsurrogat, eine jungfräuliche Geburt mittels Gensplitting – was ihr wollt … Aber, hat sie mir später gesagt, sie hat die Beine aus Tradition breitgemacht. Ich vermute, so wollte sie es haben.
Wie dem auch sei, ich wurde geboren.
Ich wurde auf der Erde geboren – der Alten Erde –, und der Teufel soll Sie holen, Lamia, wenn Sie es nicht glauben. Wir lebten auf Mutters Anwesen auf einer Insel nicht sehr weit vom Nordamerikanischen Naturschutzgebiet entfernt.
Notizen für eine Skizze der Heimat auf der Alten Erde:
Filigrane Dämmerung verblasst von Violett zu Fuchsienrot zu Purpur über den Krepppapiersilhouetten von Bäumen hinter dem südwestlichen Abschnitt des Rasens. Der Himmel so
zerbrechlich wie hauchfeines Porzellan und nicht von Wolken oder Kondensstreifen verunziert. Die präsymphonische Stille des ersten Lichts, gefolgt vom Cymbeltusch des Sonnenaufgangs. Orange und Rostbraun entflammt zu Gold, dann der lange, kühle Abstieg zum Grün: Laubwerk, Schatten, Zweige von Zypressen und Trauerweiden, der zartgrüne Samt des Sumpfes.
Mutters Anwesen, unser Anwesen: vierzig Hektar inmitten von Millionen Hektar. Rasenflächen so groß wie mittlere Prärien, Gras so perfekt, dass es den Körper förmlich einlud, darauf zu liegen, auf seiner Perfektion zu schlafen. Edle Bäume machten den Erdboden zur Sonnenuhr, ihre Schatten zogen in stattlicher Prozession dahin, überkreuzten sich, zogen sich um die Mittagszeit zurück und streckten sich zuletzt im sterbenden Tag gen Osten. Königseichen. Ulmen. Baumwolle und Zypressen und Rotholz und Bonsai. Banjanbäume, deren glatte Stämme wie Säulen eines Tempels aufragten, dessen Dach der Himmel war. Weiden säumten sorgfältig angelegte Kanäle und willkürliche Bächlein, und ihre hängenden Zweige sangen dem Wind uralte Lieder.
Unser Haus erhebt sich auf einem flachen Hügel, wo die braunen Kurven des Rasens im Winter wie die glatten Flanken eines weiblichen Tiers aussehen: gespannte, für Schnelligkeit geschaffene Muskeln. Das Haus zeigt jahrhundertelange Anbauten: ein Jadeturm am östlichen Hofrand, in dem sich das erste Licht der Dämmerung bricht; eine Reihe Giebel am Südflügel, die zur Teestunde dreieckige Schatten auf das Kristallkonservatorium werfen; Balkone und Irrgärten externer Treppen an der Ostfassade, die Escher-Spiele mit den Schatten des Nachmittags spielen.
Es war nach dem Großen Fehler, aber bevor alles unbewohnbar wurde. Wir bewohnten das Anwesen weitgehend während »Ruheperioden«, wie wir sie zurückhaltend nannten:
Abschnitten von zehn bis achtzehn ruhigen Monaten zwischen den planetaren Zuckungen, wenn das gottverdammte Schwarze Loch des Kiew-Teams Teile des Erdmittelpunkts verschlang und auf den nächsten Festschmaus wartete. Während der »Schlimmen Zeiten« machten wir Ferien in Onkel Kowas Haus jenseits des Mondes auf einem terrageformten Asteroiden, der vor der
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