Die Hyperion-Gesänge
Völkerwanderung der Ousters dorthin gebracht worden war.
Ihr alle könnt inzwischen sicher schon sehen, dass ich mit einem silbernen Löffel im Arsch auf die Welt gekommen bin. Wofür ich mich nicht entschuldigen werde. Nach dreitausendjährigem Herummachen mit der Demokratie war den verbliebenen Familien der Alten Erde klar geworden, dass man derlei Pöbel nur vermeiden konnte, wenn man nicht zuließ, dass er sich vermehrte. Oder besser, indem man Saatschiffsflotten finanzierte; Spinschiff-Erkundungen, neue Farcaster-Völkerwanderungen – die ganze panische Hektik der Hegira. Solange sie sich da draußen vermehrten und die Alte Erde in Ruhe ließen. Die Tatsache, dass die Heimatwelt eine kranke, alte, abgefuckte Hure war, tat dem Pionierdrang des Pöbels keinen Abbruch. Sie waren keine Narren.
Und wie der Buddha war ich fast erwachsen, bis ich die erste Andeutung von Armut sah. Ich war sechzehn Standardjahre alt, in meinem Wanderjahr, und reiste mit dem Rucksack durch Indien, als ich einen Bettler erblickte. Die Alten Hindu-Familien duldeten sie aus religiösen Gründen, aber ich sah damals nur einen Mann in Lumpen, mit Rippen, die sich deutlich abzeichneten, der mir einen Weidenkorb mit einem uralten Kreditdiskey hinhielt und die Berührung meiner Universalkarte erflehte. Meine Freunde dachten, ich wäre hysterisch. Ich musste mich übergeben. Das war in Benares.
Meine Kindheit war privilegiert, aber nicht im Überfluss. Ich habe angenehme Erinnerungen an die berühmten Partys der
Grande Dame Sybil; sie war meine Großtante mütterlicherseits. Ich erinnere mich noch an ein dreitägiges Fest, das sie im Archipel von Manhattan gegeben hat, wo Gäste per Landungsboot aus Orbit City und den europäischen Arkologien kamen. Ich kann mich an das Empire State Building erinnern, das aus dem Wasser ragte und dessen zahlreiche Lichter sich in den Lagunen und Kanälen spiegelten; die EMVs ließen Passagiere auf den Beobachtungsdecks aussteigen, während Lagerfeuer auf den überwucherten Inseln niederer Gebäude ringsum brannten.
Damals war das Naturschutzgebiet Nordamerika unser privater Spielplatz. Man sagte, dass noch achttausend Menschen auf diesem geheimnisvollen Kontinent lebten, aber die Hälfte davon waren Ranger. Zu den anderen gehörten die abtrünnigen AR-Nisten, die ihr Gewerbe in Verruf brachten, indem sie Pflanzen und Tiere wiederbelebten, die schon lange aus der urzeitlichen nordamerikanischen Heimat verschwunden waren, Ökologietechniker, Bioingenieure, genehmigte Primitive wie die Ogalalla Sioux oder die Gilde der Hell’s Angels und vereinzelte Touristen. Ich hatte einen Vetter, der angeblich mit dem Rucksack von einer Beobachtungszone zur anderen wanderte, aber das war selbstverständlich im Mittelwesten, wo diese Zonen dichter beisammen lagen und die Dinosaurierherden nicht so häufig waren.
Im ersten Jahrhundert nach dem Großen Fehler war Gaia tödlich verwundet, starb aber langsam. In den Schlimmen Zeiten waren die Verwüstungen groß – und sie erfolgten immer häufiger in präzise geplanten Zuckungen, kürzeren Remissionen und schrecklicheren Konsequenzen nach jedem Angriff –, aber die Erde dauerte fort und reparierte sich selbst, so gut sie konnte.
Das Naturschutzgebiet war, wie gesagt, unser Spielplatz, doch in gewisser Weise war das die ganze sterbende Erde. Als
ich sieben war, gab mir Mutter mein eigenes EMV, und es gab keinen Ort auf der Welt, der weiter als eine Flugstunde von zu Hause entfernt gewesen wäre. Amalfi Schwartz, mein bester Freund, lebte auf dem Anwesen Mount Erebus in der einstigen Antarktischen Republik. Wir sahen uns täglich. Die Tatsache, dass das Gesetz der Alten Erde Farcaster verbot, kümmerte uns nicht im Geringsten; wenn wir nachts auf einem Hügel lagen und die zehntausend Orbitlichter und zwanzigtausend Fanale des Rings betrachteten und die zwei- bis dreitausend sichtbaren Sterne dazu, verspürten wir keine Eifersucht, keinen Wunsch, an der Hegira teilzunehmen, die schon damals die Farcasterseide des Weltennetzes spann. Wir waren glücklich.
Meine Erinnerungen an meine Mutter sind seltsam stilisiert, als wäre sie ein weiteres fiktionales Konstrukt aus meinem Romanzyklus um die Sterbende Erde. Vielleicht. Vielleicht wurde ich ja in den automatisierten Städten Europas von Robotern großgezogen, in der Amazonaswüste von Androiden gesäugt oder einfach in einem Tank gezüchtet wie Brauereihefe. Ich kann mich an Mutters weißes Gewand erinnern, das
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