Die indische Erbschaft
die Familie Ströndle, aber dort, wo sie wohnten und wo sie bekannt waren, wurde der Aufruf in den nächsten Tagen tatsächlich heftig diskutiert und umrätselt. Martha spürte am wenigsten davon, um so mehr Wilhelm Ströndle. Herr Knapp zapfte ihn an, die Reisenden steckten die Nase ins Kontor, und die Kunden der Firma, mit denen er persönlich verhandelte oder telephonierte, begannen die Gespräche gewöhnlich mit scherzhaften Pumpversuchen; und die ein wenig ironisch gefärbte Frage, „Nun, was macht die indische Erbschaft?“, wurde zu einer Art Begrüßungsformel, die allmählich lästig und peinlich wurde. Sogar der Chef unterließ es nicht, sich gelegentlich nach „Großvaters Millionen“ zu erkundigen. Wilhelm Ströndle schluckte die Anzapfungen herunter, aber sie machten ihn nervös und reizbar.
Natürlich hatte auch Helmuth Krönlein die Zeitung gelesen, und bei dem Rendezvous an der alten Brücke galt seine erste Frage dem Aufruf. Charlotte war inzwischen mit dieser Geschichte so oft angeödet worden, daß sie giftig wurde, als nun auch noch Helmuth damit ankam. Nein, sie hatte keine Ahnung, was der Aufruf zu bedeuten hatte. Sie wußte nur zu sagen, daß es sich tatsächlich um ihren Urgroßvater handelte, weil das aus den Familienpapieren hervorging. Mehr war darüber nicht zu bemerken.
„Hm — eine höchst sonderbare Geschichte...“
„Wenn du jetzt noch davon anfängst, daß so eine Anzeige doch eine Menge Geld kostet, und daß deshalb...“
„Wie kommst du darauf?“ fragte er verblüfft, denn sie hatte haargenau das ausgesprochen, was er zu sagen im Begriff gewesen war.
„Weil ich das inzwischen fünfzigmal gehört habe, und weil es mir allmählich zum Halse herauskommt!“ sagte sie ärgerlich.
Es war ein prachtvoller, warmer Vorsommerabend. Der Sonnenball sank kupfern in eine blauschwarze Wolkenwand und tauchte den Strom, die alten Brückenheiligen und die Dächer und Türme der Stadt in leuchtende Goldtöne.
„Immerhin...!“ murmelte Helmuth Krönlein nach einer Weile.
„Was immerhin?“
„Hm — es wäre nicht auszudenken, was geschähe, wenn ihr auf einmal Geld bekämt — viel Geld, meine ich“, sagte er verkniffen.
„Und was wäre dabei nicht auszudenken?“
„Wie das dann mit uns beiden weitergehen soll. Dein Wilhelm würde darüber vermutlich völlig verrückt werden...“
„Kannst du nicht endlich davon aufhören? Ich habe mich so sehr auf die paar Stunden gefreut, und nun redest du die ganze Zeit von nichts anderem als von dieser blödsinnigen Erbschaft!“
„Erbschaft! Da haben wir es ja! Jetzt hast du selber die Katze aus dem Sack gelassen! Und ich sehe schon, wie alles kommen wird. Wenn ich deinem Vater schon jetzt nicht recht bin, wie soll das erst werden, wenn er tatsächlich fünfzig- oder sechzigtausend Mark in die Hände kriegt!“
„Oder hunderttausend oder fünfhunderttausend!“ fauchte sie ihn an, „du hast doch sonst soviel Phantasie! Weshalb spinnst du nicht gleich in die Millionen, wenn du schon zu spinnen anfängst?“
„Ich sehe es kommen, ich sehe es kommen!“ murmelte er düster.
„Und ich sehe es kommen, daß ich umdrehe und dich stehen lasse, wenn du nicht endlich mit diesem Unsinn aufhörst. Vielleicht ist es eine Erbschaft... Hoffentlich ist es eine Erbschaft, wir könnten sie wahrhaftig gut gebrauchen... Aber was soll sich deshalb zwischen uns beiden ändern?“ Ihre Augen blitzten vor Zorn, und er merkte, daß es nicht ratsam sei, das Thema weiter zu verfolgen, wenn er es für heute mit Charlotte nicht ernsthaft verderben wollte.
„Schön, reden wir von etwas anderem!“ sagte er mit einem Seufzer; aber es wurde trotzdem ein verpatzter Abend, der Urgroßvater Johannes Chrysostomus Ströndle stand wie ein Gespenst zwischen ihnen, er saß an ihrem Tisch und er folgte ihnen auf dem Heimweg, ja, er drängte sich sogar zwischen ihre Küsse.
Das Pfingstfest kam, und Martha konnte einen Hunderter in ihr Geheimfach im Nähtisch legen. Der Juni zog vorüber, es wurde sommerlich heiß, aber aus England kam keine Antwort und keine Nachricht. Die Stimmung daheim wurde immer kritischer. Die gemeinsamen Mahlzeiten verliefen in eisigem Schweigen, nachdem es zu zwei ziemlich turbulenten Szenen gekommen war, als einmal Werner und einmal Charlotte es gewagt hatten, die Frage, die in ihnen unablässig bohrte, bei Tisch laut anzuschneiden.
Wilhelm Ströndle hatte die täglichen Anzapfungen des Chefs und seiner Kollegen so satt bekommen, daß
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