Die indische Erbschaft
Leibwache, umstellt, niedergemacht und verstümmelt.“
„Ermordet...!“ röchelte Christa; sie sank in sich zusammen und schloß die Augen, als empfange sie die tödlichen Streiche, die ihren Ahnherrn vor hundert Jahren im indischen Dschungel niedergestreckt hatten.
„Zum Teufel!“ knurrte Wilhelm Ströndle, „es geht mir ja auch an die Nieren, aber jetzt laßt mich doch gefälligst weiterlesen!“ Er räusperte sich kurz und scharf: „Also — Die englische Regierung nahm die Ereignisse zum Anlaß, Truppen in Japore einmarschieren zu lassen und die Hauptstadt Bangapor zu besetzen, um die Ruhe wiederherzustellen. Da die in Frage kommenden Thronprätendenten der Regierung Ihrer Majestät, der Königin Victoria, nicht vertrauenswürdig erschienen, wurde der Staat Japore unter britische Verwaltung gestellt. Dem energischen Vorrücken angloindischer Truppen ist es zu verdanken, daß sowohl der Staatsschatz als auch das Privatvermögen der ermordeten Maharani bzw. ihres Gatten sichergestellt werden konnten. Aus den Vorgefundenen Verträgen ergab sich, daß Johannes Chysostomus Ströndle, nachdem sowohl die Maharani als auch ihr Sohn verstorben waren, als einziger Erbe des Privatvermögens in Betracht kam...“
„Mensch!“ keuchte Werner und preßte die Hände gegen seinen Hals, „jetzt kommt’s!“
„Das Vermögen des Erben wurde nach England übergeführt und in der Bank von England deponiert. Nachdem zwei Aufrufe in dieser Sache in den Jahren 1873 und 1893 erfolglos blieben, und die für die Zukunft vorgesehenen Aufrufe durch den ersten und zweiten Weltkrieg ausfal-len mußten, entschloß sich die Regierung Ihrer Majestät zu einem letzten Versuch, das Vermögen in die Hände der rechtmäßigen Erben zu leiten. Dieser letzte Versuch erfolgte besonders deshalb, weil nach der indischen Unabhängigkeitserklärung der Staat Japore Anspruch auf das in England deponierte Vermögen erhoben hat.“
Charlotte schreckte hoch, und Werner stieß einen langen Pfiff aus. Wilhelm Ströndle starrte in das Schreiben. Er bewegte die Lippen, aber es kam kein Ton heraus. Und dann kam ein Laut, als hätte ihm jemand einen Dolch in die Brust gestoßen und als unterdrücke er mit furchtbarer Anstrengung einen mörderischen Schmerz; seine Augen öffneten sich weit, sein Mund verzerrte sich zu einer Grimasse, und plötzlich, wie von einem Hieb gefällt, sackte er zusammen und wäre umgesunken, wenn Werner und Charlotte nicht von beiden Seiten hinzugesprungen wären und ihn gehalten hätten.
„Ein Schlaganfall...“, stammelte Charlotte.
„Quatsch, er ist nur ohnmächtig geworden!“ rief Werner.
Martha riß ein Handtuch vom Trockengestell, rannte zur Wasserleitung, drehte den Hahn auf, tränkte das Handtuch und stürzte zu dem Bewußtlosen, um es ihm an die Stirn zu pressen.
„Wilhelm!“ rief sie angstvoll und rüttelte ihn, „um Himmels willen, du wirst mir doch das nicht antun!“
Nein, er tat es ihr nicht an. Er atmete, und er lebte, und er erschauerte sogar, weil ihm das eiskalte Wasser unter den Kragen lief.
„Was hatte er nur?“ fragte Christa ängstlich.
„Nun laßt ihn doch einmal in Ruhe“, sagte Werner, „er wird ja schon wieder!“
Er riß das Schreiben an sich, das aus der Hand seines Vaters zu Boden geglitten war und hatte nach wenigen Sekunden die Stelle gefunden, die Wilhelm Ströndle bald zum Verhängnis geworden wäre.
„Hört zu!“ brüllte er plötzlich, und seine Lautstärke veranlaßte die drei um Wilhelm Ströndle bemühten Damen, ihm die Gesichter zuzuwenden.
„Das in der Bank von England deponierte Vermögen besteht aus einem bisher unverzinsten Barkapital von rund siebenhunderttausend Pfund Sterling, ferner aus Barrengold im Werte von rund zwei Millionen Pfund Sterling und zum größten Teil aus einem Juwelenschatz, der nach vorsichtiger Sachverständigenschätzung einen Wert von etwa fünfzehn Millionen Pfund Sterling repräsentiert. Es existieren allerdings auch Urteile, die den Wert der Juwelen bedeutend höher einsetzen. — Sollten sich Ihre Angaben bestätigen, so würden Sie in den Besitz dieser Hinterlassenschaft des Johannes Chrysostomus Ströndle kommen. Die Regierung Ihrer Majestät empfiehlt Ihnen, ungeachtet der Maßnahmen, die die Regierung Ihrer Majestät zur Prüfung der Angelegenheit unternehmen wird, Ihre Erbansprüche baldigst geltend zu machen. Wenn die Überführung der Erbschaft nach Deutschland auch mit Schwierigkeiten verbunden sein wird, deren Überwindung
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