Die indische Erbschaft
Dame, die ihr Buch fortlegte und sich aus der Ecke der Couch erhob, um ihre Gäste zu begrüßen, Martha ging voran. Karoline Vollrath war auffallend zart und wirkte, wie sie dastand, die linke Schulter höher als die rechte, mit kurzsichtigen Augen und farblosen Brauen, die Vogelnase ein wenig schief im Gesicht und die dünnknochige Hand halb vorgestreckt, ein wenig verwachsen. Das schwarze Kleid, sicherlich ein teures Modell, hing an ihrem Körper, als hätte sie es im Inventurausverkauf erstanden.
„Meine Frau...“, sagte Oskar Vollrath mit einer halbkreisförmigen Handbewegung und in einem Tonfall, als bedauere er es selber am meisten, mit solch einem saft- und kraftlosen Geschöpf verheiratet zu sein. Die Ströndles erhielten der Reihe nach eine Hand, die so gebrechlich erschien, daß man sie nicht zu drücken wagte.
„Ich dachte, Sie hätten drei Kinder, liebe Frau Ströndle...“
„Meine Jüngste fühlte sich nicht ganz wohl, gnädige Frau.“
„Nehmen Sie Platz, meine verehrten Herrschaften, Couch oder Sessel, ganz wie es Ihnen beliebt!“ rief Oskar Vollrath und stieß das Kinn gegen seine Frau vor: „Wo stecken die Kinder so lange, Lina? Und wo sind die Gläser, und wo ist der Wein?“ Er redete mit ihr wie ein ungeduldiger Gast mit der Kellnerin eines zweitklassigen Lokals.
„Nicht so ungeduldig, Oskar, der Wein kommt sofort, und Helen war beim Tennis und zieht sich noch um, und Ronny hat bis jetzt gearbeitet.“ Sie wandte sich an Martha, die neben ihr auf dem Rande der Couch Platz genommen hatte, „mein Sohn steckt nämlich mitten im Referendarexamen...“
„Nebenbei bemerkt zum zweiten Male und seit drei Jahren!“ knurrte Oskar Vollrath. „Die Herren Söhne haben es ja nicht mehr nötig, sich anzustrengen. Es genügt, wenn der Alte schafft. Aber Ansprüche! — Was machen Sie eigentlich, junger Mann?“
„Ich studiere Jura, Herr Vollrath; allerdings erst im zweiten Semester.“
„Na, dann halten Sie sich mal ran! Vielleicht holen Sie meinen Filius noch ein.“
„Ach, meiner hat auch Rosinen im Kopf“, warf Wilhelm Ströndle ein; vielleicht weniger, um Werner schlecht zu machen, als um etwas zur Unterhaltung beizutragen und um Oskar Vollrath zu zeigen, daß auch andere Väter mit ihren Söhnen Sorgen hatten. „Er will Schauspieler werden.“
„Schauspieler? Warum denn nicht? Wenn er begabt ist…“ Frau Vollrath sah Werner aus ihren kleinen, huschenden Mausaugen freundlich an, und eine flüchtige Röte zog über ihr blasses Gesicht, „meine Tochter Helen träumt von nichts anderem als von den Brettern, die die Welt bedeuten...“
„Und dein flotter Ronny träumt wahrscheinlich von den Brettern, die die halbe Welt bedeuten!“ sagte Herr Vollrath und bekam einen roten Schädel; „hör mir bloß mit dem Käse auf, Lina! Diese jungen Leute! Schauspieler wollen sie werden, Tennisspieler, Autorennfahrer, Filmregisseure! Bloß arbeiten wollen sie nicht!“
Werner holte Luft — und bekam von seiner Mutter und von seiner Schwester Charlotte gleichzeitig zwei heftige Tritte gegen die Schienbeine.
„Ja, es ist schon ein Kreuz...“, murmelte Wilhelm Ströndle mild, denn er hatte die ungemütliche Situation heraufbeschworen.
„Jedenfalls wird Helen sich freuen, Sie kennenzulernen“, flüsterte Frau Vollrath Werner zu. Ihre flinken Augen huschten wohlgefällig über sein hübsches Profil und irrten auf Charlotte ab, wo sie nach einer flüchtigen Musterung der Frisur und des Gesichts schließlich auf ihrem üppigen Busen hängenblieben. Charlotte wurde es ein wenig ungemütlich dabei.
Ein Mädchen brachte in einem silbernen Kübel zwei Flaschen und stellte Gläser auf den Tisch, und die Kleine, die ihnen die Mäntel abgenommen hatte, fuhr einen Servierwagen mit Platten voll erlesener Delikatessen an den Tisch heran.
„Sagen Sie Fräulein Helen und Herrn Ronald, daß wir sie erwarten, Anne!“ rief Frau Vollrath. Oskar Vollrath bot Zigarren und Zigaretten an. Er goß die Probe in sein Glas, schnupperte daran, hielt es gegen das Licht und ließ den Probeschluck über die Zunge rollen. „Den müßte man eigentlich im Knien trinken!“ stellte er fest und übernahm das Schenkenamt, „aber das wäre zu umständlich. Als dann, meine verehrte Familie Ströndle, das erste Glas auf Ihr Wohl und auf Ihr Glück!“
In diesem Augenblick gesellten sich Helen Vollrath und ihr Bruder Ronald zu der Tischrunde. Daß sie Geschwister waren, erkannte man auf den ersten Blick, aber beide
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