Die Insel der Dämonen
zurück. Er hatte die Gestalt erkannt. Es gab keinen Zweifel mehr: Seine Nichte hinterging und betrog ihn. Er hatte ihr vertraut und sie verriet ihn an einen kleinen, unbedeutenden Leutnant.
De Roberval rührte sich nicht von der Stelle. Er wartete weiter im Dunkeln, und noch immer dachte er nicht darüber nach, was er tun würde. Noch immer beherrschte ihn eine eisige Wut, die all sein Denken zu lähmen schien.
Über eine Stunde stand de Roberval reglos in der Finsternis, dann sah er den Schatten plötzlich wieder auftauchen. Die Gestalt schlich vom Niedergang zur Kabine der Damen und verschwand so geräuschlos, wie sie gekommen war.
De Roberval schloß seine Tür vorsichtig und leise. Langsam schritt er zurück zu seinem Kartentisch. Nach einigen Minuten zündete er eine Kerze an und stellte sie in die Mitte des Tischs. Er setzte sich in seinen Stuhl und sah zu, wie die Flamme ganz gemächlich die Kerze verzehrte.
Als der Rudergänger der Morgenwache im ersten Tageslicht an Deck stolperte, merkte er nicht gleich, daß etwas geschehen war.
Wie es seine Gewohnheit war, trat er zunächst ans Heck der Anne, um Wasser zu lassen. Er blickte über die Bucht, die noch im Schatten lag. Durch die Einfahrt fiel goldenes Licht auf die spiegelglatte Wasserfläche. Das Licht brach sich und malte tanzende Flecke auf den sanft ansteigenden Hang.
Der Wachmann gähnte und dann verschlug es ihm die Sprache. Das, was er sah, vielmehr, was er nicht sah, konnte einfach nicht wahr sein!
Er rannte zu seinem Kameraden, der im Schutze der Reling schlummerte, und schüttelte ihn.
»Was ist denn los?«, gähnte dieser mißmutig .
»Sie sind weg! Sie sind weg!«, rief der Rudergänger aufgeregt.
»Was? Weg? Wer?«
»Cartiers Schiffe - sie sind weg!«
»Aber sie waren doch gestern noch da«, sagte der begriffsstutzige Matrose.
»Aber jetzt sind sie weg!«
»Laß mich sehen!«
Unwillig richtete sich der so rüde Geweckte auf und glotzte in die Bucht. Alle fünf Schiffe Cartiers waren im Schutze der Nacht verschwunden.
Marguerite wurde von aufgeregten Rufen und dem Trampeln vieler Füße geweckt. Sie schreckte hoch. Die innere Unruhe vom Vortag war schlagartig wieder da: die böse Vorahnung, so stark, daß sie sie selbst in Henris Armen nicht vollständig hatte vergessen können.
Auch Damienne wurde durch den Lärm an Deck wach.
»Was ist denn jetzt schon wieder los«, murmelte sie verschlafen.
»Ich weiß es nicht«, sagte Marguerite schüchtern.
Damienne richtete sich auf und blickte aus dem Fenster. Es wurde gerade erst hell.
»Viel zu früh«, sagte sie, »was soll der Lärm zu dieser unchristlichen Zeit?«
»Ich weiß es nicht, Damienne, aber es macht mir Angst.«
»Bleib du nur liegen, mein Kind! Ich gehe nachsehen.«
Damienne strich sich die widerspenstigen Haare glatt, schlüpfte in ihren Morgenrock und verließ die Kabine.
Wenige Minuten später erfuhr auch Marguerite, daß Cartiers Flotte verschwunden war.
De Roberval war irgendwann doch in seinem Stuhl eingenickt. Als es heftig an die Tür pochte, war er jedoch sofort hellwach. Sein Blick fiel auf die Kerze. Sie war in der Nacht vollständig heruntergebrannt. Die Tür flog auf, noch bevor er »Herein« sagen konnte.
Kapitän de Xaintonge stand vor ihm, ungekämmt und im Nachthemd.
»Was gibt es?«, fragte de Roberval mürrisch.
»Sie sind weg! Cartier und seine Schiffe! Er hat sich davongemacht!«
De Roberval sah den Kapitän an. Dann stand er wortlos auf, schob ihn zur Seite und marschierte an Deck. Es war wirklich wahr - Cartier hatte sie im Stich gelassen!
De Roberval betrachtete das Durcheinander an Bord der Anne, dann sah er hinüber zu den anderen Schiffen. Auch dort herrschte helle Aufregung. Selbst der sonst so gefestigte Kapitän de Xaintonge wirkte fahrig und beunruhigt. Nur de Roberval selbst behielt die Ruhe.
»Also auch Cartier«, sagte er tonlos.
»Auch, Monsieur?«, fragte der Kapitän irritiert.
De Roberval antwortete nicht, sondern blickte nur über die Bucht. Er dachte an den vorigen Abend, als er in der Kabine gesessen und seinen hochfliegenden Gedanken nachgehangen hatte. Sein Glück schien zum Greifen nahe gewesen, doch eine einzige
Nacht hatte genügt, um alles, wovon er geträumt hatte, zu zerstören. Wenn, ja wenn er es zuließ!
De Roberval erlaubte sich selten zu träumen. Er war ein Mann der Tat, einer, der auf Herausforderungen reagierte und jeden Kampf annahm. Da war sie wieder, diese kalte Wut, die ihn gleichzeitig so
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