Die Insel der Dämonen
Seegang. Marguerite lauschte den Schreien der Vögel und dem Rauschen des Wassers. Sie war nervös. Sie ahnte, daß etwas nicht stimmte. Gar nichts stimmte.
Ihr Onkel war von einer so unnatürlichen Ruhe, daß sie mehr Angst vor ihm hatte als je zuvor. Seine schlimmsten Tobsuchtsanfälle erschienen ihr erträglicher als die Eiseskälte, die er ausstrahlte.
Cartier hatte ihn verraten, aber das schien er hinzunehmen. Daß die Wachen geschlafen hatten, statt aufzupassen, war bislang ohne Folgen geblieben: Es gab keinerlei Bestrafung, was die Mannschaft beunruhigte. Alle an Bord des Schiffes wirkten aufs Äußerste angespannt - alle bis auf Jean-Frangois de La Roque Sieur de Roberval. Marguerite schien es, als sei er versteinert. Sie fürchtete sich vor dem, was passieren würde, wenn diese Versteinerung von ihm abfiel.
Vorerst machte die Anne langsame Fahrt gen Norden. Sie konnte die große Insel Baccalaos bald nicht mehr sehen, denn die lag an Backbord, aber sie sah die Valentine, die allmählich hinter die Anne zurückfiel. Den ganzen Tag und die ganze Nacht segelten die beiden Schiffe nach Norden, und die ganze Zeit litt Marguerite unter der fast greifbaren Spannung, die über dem Schiff lag.
Sie fuhren immer weiter nach Norden. Nicht einmal als die Sonne spät am Abend untergegangen war, ließ de Roberval ankern. Die Mannschaft murrte, denn die Schiffe befanden sich in unbekannten Gewässern, und eine Fahrt so dicht unter unbekannter Küste war riskant, weil niemand wußte, ob nicht Klippen oder Riffe unter der Wasseroberfläche lauerten. Die Nacht war sternenklar und die Mondsichel spiegelte sich im stillen schwarzen Meer.
Marguerite saß lang hinter ihrer kleinen Luke, starrte hinaus und dachte an Henri: Henri, den Geliebten, den sie seit dem Aufbruch in Saint-Jean nicht mehr gesehen hatte. Irgendwann schlief sie aber doch ein.
Mitten in der Nacht erwachte sie und blickte in das besorgte Gesicht Damiennes, die an ihrem Bett saß.
Marguerite schreckte hoch: »Ist etwas passiert?«
»Es liegt etwas Böses in der Luft«, flüsterte Damienne. »Dein Onkel war die ganze Nacht auf Deck. Er hat nicht geschlafen, und niemand wagt, ihn anzusprechen.«
»Hast du Henri gesehen?«
»Ja, aber er hat gesagt, daß ihr euch heute nicht sehen könnt.«
»Wir haben uns doch schon gestern nicht gesehen«, rief Marguerite enttäuscht.
»Leise!«, flüsterte Damienne. »Dein Onkel hat doppelte Wachen aufstellen lassen. Wir müssen vorsichtig sein.«
Gegen Mittag des nächsten Tages hielt es Marguerite nicht länger aus. »Ich muß hier raus!«, sagte sie. Damienne bat sie zu bleiben. Doch Marguerite bestand darauf, die enge Kabine zu verlassen. Ergeben seufzend und ein Gebet murmelnd, schloß sich Damienne an.
Am Aufgang wurden sie von einem Soldaten aufgehalten. »Es ist heute nicht erlaubt, auf Deck zu gehen, Mademoiselle.«
»Aber ich bin die Nichte des Kommandanten!«, empörte sich Marguerite.
»Ich weiß, Mademoiselle, aber der Kommandant hat strikte Anordnung erlassen, daß heute keiner der Passagiere an Deck darf, auch Ihr nicht.«
Unter anderen Umständen hätte sie den Soldaten vielleicht einfach zur Seite geschoben oder es zumindest versucht, aber es schien ihr der falsche Tag, um aufzubegehren.
Dann sah sie Henri auf dem Vorderdeck stehen. Er blickte auf das Meer hinaus. Sie hätte ihn gerne gerufen, aber das war natürlich unmöglich. Sie zögerte, sah, wie sein Haar vom Wind gestreichelt wurde, aber er bemerkte sie nicht. Sie kehrte traurig in ihre Kabine zurück.
An Abend kam Nebel auf und de Roberval ließ widerwillig in Küstennähe Anker werfen. Marguerite verbrachte erneut eine unruhige Nacht und fand keinen Schlaf.
Mitten in der Nacht stand sie noch einmal auf und kniete sich an die Luke. Sie betete: für sich, für Damienne und besonders für Henri.
Der Nebel hielt sich auch am Morgen hartnäckig. Durch ihr offenes Fenster konnte Marguerite hören, wie ihr Onkel in seiner Kajüte mit Kapitän de Sauveterre stritt. Sie konnte nicht jedes Wort verstehen, aber sie hörte heraus, daß de Roberval auf den Kapitän einredete, die Fahrt endlich fortzusetzen. Der Kapitän weigerte sich standhaft.
Erst gegen Mittag schwächte sich der Nebel zu leichtem Dunst ab, und de Sauveterre befahl, die Anker zu lichten. Eine Fahrt bei Nebel in unbekannten Gewässern konnte verhängnisvoll enden. Um sicherzugehen, machte die Flottille nur langsame Fahrt und nahm Kurs von der Küste weg auf das offene Meer hinaus.
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