Die Insel der Krieger
mit Kaya stand. Die Insel war um einiges größer, als der Junge erwartet hatte. Der Himmel war wolkenlos und blau an diesem Tag, sodass eine Vielzahl an Vögeln über ihnen und um sie herumflog. Nalig war dem Himmel noch nie so nah gewesen. Wä h rend er noch dastand, die Aussicht bewunderte und die Flugmanöver der Vögel bestaunte, hörte er einen Ruf, der ihm unangenehm vertraut war. Schon sah er den Falken – seinen Falken, wie er die Turmspitze umkreiste. Kartax war am Fuß der Treppe zurückgeblieben. Der Vogel musste durch eines der Fenster nach draußen gelangt sein. Verdrie ß lich dachte Nalig daran, dass er ihn für den Rest seines Lebens begle i ten sollte. »Ein wirklich schönes Tier«, stellte Kaya fest und verfolgte jede Bewegung des Falken. Nalig musste sich eingestehen, dass sie Recht hatte. Das Gefieder des Vogels war grau am Kopf und rotbraun mit schwarzen Flecken am Rücken und glänzte in der Sonne. Es war zudem beeindruckend, wie er mal im Sturzflug auf das Dach aus Blä t tern hinabschoss, mal durch einen geschickten Einsatz seiner Flügel an einem Punkt in der Luft verharrte oder sich mit aufgespannten Flügeln von einer Brise tragen ließ. Naligs Bewunderung schwand jedoch sogleich, als er feststellte, dass der Falke Jagd auf die anderen Vögel machte. »Lass das! « , wies der Junge ihn zurecht. Augenblicklich stellte das Tier seine Attacke ein und flog auf den Balkon zu. Als Nalig den Schnabel herannahen sah, wurde ihm das Fehlen seines Fingers wieder schmerzhaft bewusst. Panisch schlug er nach dem Vogel und wich zur Seite aus, wobei er auf dem schmalen Balkon gefährlich ins Wanken kam. »Nalig! « Kaya ergriff seinen Arm und half ihm, sein Gleichg e wicht wiederzufinden. Den freien Arm hob sie in die Luft, sodass der Falke sich darauf niederlassen konnte. »Was ist nur los mit dir? « , fragte die Göttin tadelnd und ließ Nalig wieder los. »Er wollte mich angre i fen«, fluchte der Junge und deutete anklagend auf seinen Gefährten. »Unsinn! Warum sollte er das tun? « Nalig hob empört seine bandagie r te Hand, sodass Kaya sie gut sehen konnte und wackelte mit den ve r bliebenen Fingern. »Das war eine einmalige Sache. Er hat das nicht zum Vergnügen getan. « »Vielleicht ist er ja auf den Geschmack g e kommen. « »Er hat lediglich getan, was du ihm gesagt hast: Er hat aufgehört zu jagen, was du ihm, nebenbei bemerkt, nicht verbieten solltest. Das liegt in seiner Natur. « »Als ob es ihn scheren würde, was ich zu sagen habe. « Gekränkt verließ Nalig den Balkon und begann, die Treppe hinabzusteigen. Er fand es in höchstem Maße ungerecht, dass Kaya sich auf die Seite dieses Vogels schlug. Am Ende der Tre p pe wartete Kartax hoffnungsvoll auf seine Begleiterin. Nalig beneidete die Göttin insgeheim um ihr Begleittier. »Was hat Kartax Euch ang e tan, um das Band zu Euch zu knüpfen? « , wollte Nalig wissen, als auch Kaya am Fuß der Treppe angelangt war. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass der Löwe etwas tat, das der Göttin schadete, der er ein so treuer Begleiter war. »Bei uns ist das etwas anderes. Ich bin eine Göttin und das Band zwischen ihm und mir bestand schon vor meiner Geburt. « »Aha. « Nalig konnte sich nicht helfen. Er fühlte sich ung e recht behandelt, sagte jedoch nichts weiter. Das Gebäude, durch das Kaya ihn führte, faszinierte ihn. Nicht alleine durch seine Größe, so n dern vor allem durch die zahllosen Gemälde und Schnitzereien, welche Wände und Decke schmückten. Auch fand sich eine Unmenge von Skulpturen aller erdenklicher Größen. »Dies ist der Speiseraum«, e r klärte die Göttin und führte ihn in einen Raum voll altmodischer M ö bel aus dunklem Holz. »Ich lege großen Wert darauf, dass alle Krieger oder jene, die es einmal werden wollen, ihre Mahlzeiten gemeinsam einnehmen. « Nalig ließ den Blick über die lange Tafel wandern. Am Kopfende stand ein Stuhl mit rotem Polster und breiter Lehne. Ve r mutlich Kayas Platz. Was ihn allerdings verwirrte, war, dass an den Seiten des Tisches neun Stühle standen und nicht acht, wie er erwartet hatte. Insgesamt wirkte der Raum recht düster durch die dunklen Möbel und die bunten Fenstergläser, die nur wenig Licht hereinließen. Als Kaya weiterging, schloss Nalig die Tür hinter sich und folgte ihr. Sie führte ihn durch weitere Räume, die allesamt prachtvoll eingeric h tet waren und sich durch hohe Wände und große Fenster nahe der Decke auszeichneten. Allmählich verlor Nalig in
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