Die Insel der Krieger
war, wäre es nahezu unmöglich, ihn zu finden. Gegen ein plötzliches Gefühl der Panik ankämpfend, zwang Nalig sich zur Ruhe. Nino kam auf den Gang gehüpft. Er schien völlig aus dem Häuschen. Erst jetzt fiel Nalig auf, dass der Lemur rote Flecken im Fell hatte. Nalig besah sich das Tier näher und erkannte, dass es Blut war. Allerdings konnte er bei Nino keine Verletzung finden, die dafür verantwortlich war. »Merlin«, rief Nalig seinen Begleiter. Der Falke kam aus seinem Zimmer gesegelt. »Wir müssen Arkas finden«, erklärte Nalig dem Tier. Er deutete auf Nino. »Arkas«, wiederholte er noch einmal deutlich. »Du musst nach ihm suchen. « In der Hoffnung, dass der Vogel begriff, öffnete Nalig das Fenster am Ende des Ganges und schickte ihn hinaus. »Du kommst mit mir«, beschloss Nalig und schnappte den Lemuren. Mit ihm rannte er auf den Innenhof, den er verlassen vorfand. Das Badehaus war ebenfalls verwaist. So gezielt wie möglich begann Nalig, das Innere des Tempels nach Arkas abzus u chen. Er stieß Türen auf und rief seinen Namen, doch es war schon bald klar, dass Arkas nicht im Tempel war. Außer Atem trat Nalig schließlich durch die Halle des Schicksals ins Freie. Es war schon fast dunkel. Am Himmel war nichts von Merlin zu sehen. Schreckliche Bilder begannen vor Naligs Augen Gestalt anzunehmen: Arkas mit blutbeschmierter Kleidung, zusammengekrümmt und bewusstlos, irgendwo in den Tiefen des Waldes. Nalig mühte sich, einen klaren Kopf zu behalten und die Bilder zu verdrängen. Doch es gelang ihm nicht. Er hatte keinen Einfluss auf diese Schreckensvisionen, die viel zu real waren, um nur böse Vorahnungen zu sein. Wie gelähmt stand Nalig vor dem Eingang zum Tempel und versuchte, die Bilder losz u werden, als er einen vertrauten Ruf vernahm. Der Junge blickte sich um, doch von Merlin war weit und breit nichts zu sehen. Der Ruf erschallte erneut, kam jedoch eher aus Naligs Innerem als aus der Umgebung . Eine Folge schneller Bilder tauchte vor dem Jungen auf: D ie Schmiede, der Waldrand, ein Baum, der in der Mitte gespalten war, ein Felsen in Form eines Bären, ein riesiger Farn, in dessen Scha t ten violette Blumen wuchsen, ein steiler Abhang und erneut Arkas’ blutbeschmiertes Gesicht. Nalig hörte abermals den Ruf seines Falken und die Bilder tauchten ein zweites Mal vor seinem geistigen Auge auf – die Schmiede, der Waldrand, der Baum, der Felsen, der Farn, der Abhang und Arkas. Nalig rannte los. Er hatte begriffen. Die Schmiede hatte er schnell erreicht. Er rannte in den Wald und ließ bald den g e spaltenen Baum hinter sich. Schwer atmend eilte der Junge weiter, kam an dem bärenförmigen Felsen vorbei, dann an dem Farn und de n lila Blume n. Schwarze Flecken tauchten in seinem Sichtfeld auf und die Luft, die hier so seltsam dünn war, schien ihm zu entweichen, doch er hielt erst an, als er fast einen Abhang hinuntergestürzt wäre. Im letzten Augenblick hielt Nalig sich an einem Baumstamm fest, der direkt am Abgrund stand. Er stützte sich dagegen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er hörte Flügelrascheln und sah Merlin, der über ihm kreiste. Als der Junge begriff, dass er am Ziel war, lehnte er sich vorsichtig nach vorn und wagte einen Blick den Abhang hinunter. Er war sehr steil und Felsen ragten senkrecht aus der Wand. Der Boden war in der Tiefe nicht zu sehen. Wenn Arkas dort hinuntergestürzt war, würde er ihn nicht erreichen und vermutlich ohnehin nichts mehr für ihn tun können. Merlin ließ einen ungeduldigen Ruf hören und flatterte ein Stück den Abhang hinab. Als Nalig ihm mit den Augen folgte, sah er Arkas. Er war abgestürzt und sechs Fuß tiefer auf dem Stamm einer Eiche zum Liegen gekommen. Der Baum hatte einst am Rand des Abhangs gestanden und war immer weiter abgerutscht, als im Laufe der Zeit immer mehr Erde vom Rand gebröckelt war. Der Stamm war unbeirrt weiter in den Himmel gewachsen und der Bogen, den er mit dem Abhang bildete, hatte Arkas’ Fall gestoppt. Das starke Wurzelwerk, mit dem sich die Eiche in die Wand des Abhangs gekrallt hatte, verhinderte, dass der Baum vollends hinabrutschte. Arkas’ Arme und Beine hingen zu beiden Seiten des Stammes herab. Doch wie sollte Nalig ihn heraufziehen, wo er doch bewusstlos war? Der Junge ging dicht am Rand des Abhangs in die Knie. Die Erde war trocken und gab leicht nach. Das dichte Geflecht aus Wurzeln ermöglichte es Nalig, zu Arkas hinabzusteigen. Der Stamm des Baumes ächzte unter dem zusätzlichen Gewicht
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