Die Insel der Orchideen
Schicksal Leah just in dem Moment hergeführt, als sie mit Lily vor die Tür trat? Warum ihr nicht die Möglichkeit gegeben, in Ruhe mit der Schwester zu sprechen und sie auf alles vorzubereiten, bevor sie ihr von Lily erzählte?
»Lass mich erklären …«
Leah schnitt ihr das Wort ab. »Erklären? Du hast mir mein Kind genommen, was gibt es da zu erklären?«
»Leah, bitte, es ist ganz anders.« Johanna legte beruhigend die Hand auf die Schulter ihrer Schwester, erreichte aber das Gegenteil. Rasend vor Zorn versetzte Leah ihr eine Ohrfeige. Johanna nahm den Schlag hin, bereit für den nächsten. Sie würde alles tun, um Leah zu besänftigen, sie würde sich sogar vor sie knien, wenn sie ihr nur zuhörte. Doch Leah gab ihr keine Möglichkeit der Rechtfertigung.
»Ganz anders? Ich bin gekommen, um dir zu verzeihen, aber ich hatte keine Ahnung, was für eine Schlange du bist.«
»Leah, bitte …«
Sie konnte ihren Satz nicht beenden, denn nun erschallte Mercys Stimme von ihrer Gartenpforte.
»Leah! Bist du es wirklich?« Mit einem freudigen Lachen eilte die Freundin auf sie zu.
»Du hast mir gerade noch gefehlt!«, brüllte Leah, außer sich vor Zorn. »Verflucht sollt ihr sein. Ihr alle! Ihr habt mir mein Kind gestohlen!«
Bevor Johanna sichs versah, kehrte Leah auf dem Absatz um, stürmte zu ihrer Kutsche und sprang hinein. Johanna starrte ihr sprachlos nach, so wie kurz zuvor die Schwester der Kutsche mit Lily und Ping hinterhergeblickt hatte. Alle Kraft wich aus ihrem Körper. Hätte Mercy sie nicht unter den Armen gepackt, sie wäre einfach in den Staub gestürzt.
Ein neuer Schreck durchfuhr sie. Hatte ihre Freundin Leahs letzte Worte verstanden? Angstvoll suchte Johanna in Mercys Gesicht nach einer Antwort. Die Freundin nickte langsam.
»Ich habe schon lange vermutet, dass es mit Lily eine besondere Bewandtnis hat«, sagte sie leise.
Johanna ließ sich in Mercys Umarmung fallen. »Ich hätte es dir längst erzählen sollen«, flüsterte sie. »Sei mir bitte nicht böse.«
»Um mich gegen dich aufzubringen, musst du dir mehr einfallen lassen.« Mercy trat einen Schritt zurück. Unter ihrem liebevollen Blick strömte das Leben zurück in Johannas Glieder. Entschlossen richtete sie sich auf. Noch war nichts verloren. Sie musste die Schwester zwingen, ihr zuzuhören. Sie musste handeln.
»Mercy, wir müssen ihr nach. Sie darf nicht mit Lily sprechen, bevor ich es getan habe.«
»Ich befürchte, wir erwischen sie nicht mehr. Was hast du Ping gesagt?«
»Sie soll erst in einer halben Stunde zurückkehren.«
»Weiß sie Bescheid?«
»Nein. Aber vielleicht macht sie sich auch ihre Gedanken.«
»Wundern würde es mich nicht«, murmelte Mercy. »Warte hier, ich bin gleich zurück.«
Kurz darauf lenkte Krishna die leichte Droschke der Robinsons auf die Straße. Johanna und Mercy wollten gerade einsteigen, als ein Palanquin neben ihnen hielt. Ping und Lily sprangen heraus. Alle redeten aufeinander ein, bis Lily sich schließlich zu Wort meldete: »Wer war die Dame?«
Die Frauen verstummten. Hilflose Blicke huschten hin und her. Johanna gab sich einen Ruck. »Das war meine Schwester. Wir haben uns immer viel gestritten. Offensichtlich hat sich nichts daran geändert«, fügte sie resigniert hinzu.
Lily riss die Augen auf. »Du hast eine Schwester? Darf ich sie dann Tante nennen?«
Statt einer Antwort nahm Johanna sie in den Arm. Lange stand sie so, dann löste sie sich von dem Kind und richtete sich auf. »Ping, lass Lily nicht allein. Wir machen uns auf die Suche.« Augenblicke später rollten Mercy und sie davon.
»Und wo beginnen wir? Wenn sie in einer der Unterkünfte nördlich des Flusses wohnt, dauert es Tage, bis wir sie finden.« Johanna war der Verzweiflung nahe.
Mercy überlegte kurz, dann schüttelte sie vehement den Kopf. »Sie ist nicht in einer billigen Absteige. Hast du ihre Kleidung bemerkt? Ihr Kleid war nach der neuesten Mode geschnitten und aus kostbarem Stoff. Sie muss es aus Europa mitgebracht haben. Ich glaube, sie hat sich gut verheiratet und reist mit ihrem Mann. Wir sollten zuerst in den besseren Hotels nach ihr fragen.«
»Leah in Europa? Ich kann es nicht glauben.«
»Es ist nur eine Vermutung. Wenn sie nicht in einem der guten Häuser ist, können wir immer noch die Pensionen und gemeinen Etablissements abklappern.« Mercy lehnte sich zurück. »Du wirst Lily die Wahrheit sagen?«
»Das kommt darauf an. Vielleicht ist Leah wirklich verheiratet, hat Kinder. Was glaubst
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