Die Insel der Orchideen
Fasziniert verfolgte Leah, wie sich der Himmel erst violett und schließlich blau färbte. Ihr wurde das Herz weit. Auch in Hamburg gab es wunderbare Sonnenuntergänge, doch niemals ging die Natur dort derart verschwenderisch mit ihren Farben um.
Oder doch? Sie schloss die Augen und lehnte sich an den Stamm der Palme. Sah sie die Welt vielleicht nur deshalb von ihrer schönsten Seite, weil sie nicht allein war? Sie tastete nach rechts, spürte warmen Sand, trockene Äste und schließlich die weiche Haut einer anderen Hand. Sie verschränkten die Finger ineinander und genossen stumm das Zusammensein.
Doch Leah wäre nicht sie selbst gewesen, wenn sie länger als zehn Minuten hätte stillsitzen können. Sie öffnete die Augen und stupste den neben ihr sitzenden Mann an. »Komm«, sagte sie. »Lass uns am Strand entlanggehen. In der Dunkelheit erkennt uns niemand.«
Boon Lee erhob sich und klopfte den Sand aus seiner Kleidung. Er trug einen hellen Anzug nach westlichem Schnitt, dazu passend einen runden Strohhut, unter dem sich der lange Zopf verbarg. Leah sah ihn zum ersten Mal in westlicher Kleidung, allerdings wollte das nicht viel heißen. Seit er sie an jenem denkwürdigen Tag im vergangenen November aus den Klauen der Straßenräuber gerettet hatte, war es ihnen nur wenige Male vergönnt gewesen, sich zu treffen. Vier Mal in fünf Monaten, um genau zu sein, und dann auch nur für wenige gestohlene Augenblicke. Es fiel Boon Lee wesentlich schwerer, sich der familiären Kontrolle zu entziehen, als ihr, zumal er häufig kürzere Reisen im Auftrag seines Vaters unternahm. Als Spross der Familie Chee wurde jeder seiner Schritte nicht nur vom strengen Vater, sondern auch von der gesamten Singapurer Gesellschaft beobachtet, während es Leah, auch dank ihrer Verkleidung, immer wieder gelang, unbemerkt im Gewimmel des chinesischen Viertels unterzutauchen und ihren geliebten Geschichtenerzähler zu besuchen.
Heute verfügten sie erstmals über mehr Zeit. Johanna war mit Friedrich bei einem Konzert im Teutonia-Club, die Mutter spielte Whist mit Freundinnen, was sich erfahrungsgemäß bis spät in den Abend hinzog, und Leah hatte sich einmal mehr auf die Ausrede zurückgezogen, an Migräne zu leiden. Mit welchem Trick sich Boon Lee davongestohlen hatte, wusste sie nicht und es interessierte sie auch nicht. Er war hier, nur das zählte. Jetzt streckte er ihr die Hand entgegen, doch sie sprang ohne Hilfe auf die Füße und umarmte ihn stürmisch. Als sie merkte, wie er sich unwillkürlich versteifte, ließ sie ihn lachend frei. Kurz überlegte sie, ob sie ihn küssen sollte, aber das war, zumindest für heute Abend, wahrscheinlich des Guten zu viel. Leah wusste mittlerweile, dass er sehr streng erzogen worden war und auch als erwachsener Mann von immerhin einundzwanzig Jahren seinem Vater absoluten Gehorsam schuldete. Die alteingesessene Familie Chee war stolz auf ihren Stammbaum und ehrte die Traditionen. Sie galt als die reichste der Stadt; kein europäisches Handelshaus konnte mit ihnen mithalten. Und Boon Lee war der einzige Erbe. Leah seufzte unwillkürlich auf. Hätte sie ihr Herz an den ärmsten aller Kulis verloren, eine glückliche Zukunft mit ihm wäre wohl wahrscheinlicher als ausgerechnet mit dem prominentesten Sohn der Stadt, der selbstverständlich eine traditionell erzogene Chinesin heiraten sollte.
Aber es gab Hoffnung. Schon beim ersten Treffen hatte sie instinktiv den hinter Boon Lees korrekter Fassade verborgenen Rebellen gespürt. Alles würde gut ausgehen. Alles
musste
gut ausgehen. Und jetzt galt es, den Moment zu genießen.
»Ich will ins Wasser!«, rief sie fröhlich und streifte schon die Schuhe ab. Sie war mittlerweile dazu übergegangen, ausschließlich leichte Zehensandalen zu tragen, sehr zum Ärger von Alwine, die unter jedem Stein einen Skorpion vermutete und sich außerdem sorgte, dass ihre Tochter Schwielen bekommen könnte. Wenn die Mutter wüsste.
Nachdem sich auch Boon Lee seiner Schuhe entledigt und die Hosenbeine aufgerollt hatte, liefen sie über den Strand zur Wasserkante. Leah raffte den Rock und planschte ins flache Wasser. Nach der Hitze des Tages war es wunderbar erfrischend. Sie grub ihre Zehen in den Sand und blickte übers nächtliche Meer. Wie herrlich musste es sein, ganz hineinzutauchen, darin herumzutollen wie die Kinder der malaiischen Fischer, die hier ihre Tage verbrachten. Leah hatte sie oft beobachtet und Neid auf ihre Schwimmkünste verspürt. Auf die Zeichnungen,
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