Die Insel der roten Erde Roman
brachte. Wenn sie, Betty, jetzt etwas über die junge Frau sagte, würde es wenigstens nicht so aussehen, als mischte sie sich in Dinge ein, die sie nichts angingen. Verstohlen blickte sie sich um, ob Ednas Mündel in der Nähe war und sie belauschte.
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, Betty. Irgendetwas an Amelia hat mich vom ersten Moment an irritiert. Ich kann nicht sagen, was es ist … es ist nur so ein Gefühl. Sie hat ihre Familie durch eine schreckliche Tragödie verloren; trotzdem spricht sie nie über ihre Eltern oder ihren Bruder. Gelegentlich weint sie zwar ein paar Tränen, aber mir kommt es so vor, als verdränge sie etwas, und als wäre ihre Trauer nicht echt.«
»Ich habe genau das Gleiche gedacht, Missus.« Betty war erleichtert, Edna endlich davon erzählen zu können.
Edna riss erstaunt die Augen auf. »Wirklich?«
»Ja, Missus. Ich spüre keine Trauer bei der Frau, aber sie hat vor irgendetwas schreckliche Angst.«
Edna war einen Moment sprachlos. »Dr. Thompson war gestern Abend bei uns. Er sagte, Amelias Angst und Unruhe kämen daher, dass sie hier in einer fremden Umgebung und bei Leuten ist, die sie kaum kennt. Ansonsten findet er ihr Verhalten ganz normal.«
Betty schüttelte den Kopf. »Haben Sie sie als Kind gekannt, Missus?« Diese Frage beschäftigte sie schon seit geraumer Zeit.
»O ja, Betty! Unser beider Familien sind zusammen nach Australien ausgewandert. Und bevor wir hier auf die Insel zogen, haben wir die Divines in Hobart Town besucht. Das war kurz nach der Geburt von Amelias Bruder Marcus. Amelia war ein süßes, bildhübsches Kind«, erzählte Edna. »Deshalb war Lance ein wenig …« Sie überlegte, wie sie die Reaktion ihres Sohnes nach der ersten Begegnung mit Amelia taktvoll formulieren könnte. Lance war regelrecht enttäuscht gewesen, doch so gefühllos wollte sie es nicht ausdrücken. »Nun, er war ein bisschen überrascht, wie … wie unscheinbar Amelia geworden ist, wo sie als Kind doch so bezaubernd war. Hätte sie nicht immer noch ihre dunklen Haare und den hellen Teint, hätte ich sie wahrscheinlich gar nicht wiedererkannt.«
Edna verstummte und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Da fällt mir noch etwas ein«, fuhr sie nach einer Pause fort. »Camilla hat mir mal einen Zeitungsausschnitt aus dem Hobart Enquirer geschickt. Es war ein Artikel aus dem Gesellschaftsteil über den Debütantinnenball. Das Foto, das dazugehörte, zeigte Amelia. Damals muss sie ungefähr sechzehn gewesen sein. Ich habe den Ausschnitt nie wieder in Händen gehalten, aber ich weiß noch genau, wie hübsch sie auf dem Foto gewesen ist. Seltsam, nicht wahr? Das Foto muss ziemlich schmeichelhaft gewesen sein.« Edna errötete; sie schämte sich ein wenig für diese Bemerkung, die ihr wie ein Verrat an Amelias Mutter vorkam. »Ich muss den Artikel noch irgendwo haben. Ich werde ihn mir einmal genauer ansehen …«
Betty wusste zwar nicht, was ein Debütantinnenball war, doch ein Gefühl sagte ihr, dass dieses Foto überaus wichtig war. Edna hatte von einem bildhübschen Mädchen gesprochen, und das Gesicht, das sich Betty im Brunnenschacht gezeigt hatte, war wunderschön gewesen …
»Sie müssen dieses Foto finden, Missus!«, sagte sie eindringlich.
Edna erschrak, als sie in Bettys Augen sah. »Warum? Was ist damit?«
»Etwas stimmt hier nicht, Missus. Ich weiß nicht was, aber dieses Mädchen verbirgt etwas. Ich mache mir Sorgen um Sie, Missus.« War das der Sinn der Botschaft, die sie aus der Tiefe des Brunnens empfangen hatte? Edna vor ihrem Mündel zu warnen?
Jetzt bekam Edna wirklich Angst. »Was meinst du damit, Betty? Was verschweigst du mir?«
Doch Betty schüttelte den Kopf. »Ich muss gehen, Missus.« Sie wollte nach ihren Kindern sehen. »Sie müssen das Foto finden!«
Betty eilte davon, und Edna ging unverzüglich ins Haus und in ihr Schlafzimmer. Sie kramte in den Schachteln, die sie im Kleiderschrank aufbewahrte und jetzt herausgeholt hatte, als Charlton das Zimmer betrat.
»Was suchst du denn, Liebes?«
Edna fuhr erschrocken zusammen. »Pssst!«, machte sie. »Wo ist Amelia?«
»Ich glaube, mit Polly draußen hinterm Haus. Wieso? Was machst du denn da? Und warum flüstern wir?«
Edna schob die Tür zu. »Ich suche einen Zeitungsausschnitt, den Camilla mir vor ein paar Jahren geschickt hat.«
»Einen Zeitungsausschnitt?«
»Ja. Aus dem Gesellschaftsteil des Hobart Enquirer . Es war ein Artikel über den Debütantinnenball mit einem Foto von Amelia.
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