Die Insel der roten Erde Roman
schnitt ihn auf und reichte jedem Kind eine Scheibe.
»Milo ging es gestern Abend gar nicht gut«, sagte Sissie.
»Ja, dein Vater hat es mir schon erzählt. Was ist denn passiert?«
»Er musste brechen. Ungefähr eine Stunde nach dem Essen hat es angefangen.«
»Er hatte ganz schlimmes Bauchweh«, ergänzte Rose.
Carlotta setzte eine mitfühlende Miene auf, verspürte aber kein bisschen Reue. »Oh, der arme kleine bambino !«, rief sie.
Als sie Evan und Milo kommen sah, scheuchte sie die Mädchen mit der Bemerkung hinaus, ihr Vater sei furchtbar schlechter Laune, die er bestimmt an ihnen auslassen würde, wenn sie ihm keine Ruhe ließen. Da die Kinder ihren Vater kannten, sprangen sie ohne Widerrede auf und liefen in ihr Zimmer. Sie wussten aus der Zeit nach dem Tod ihrer Mutter und des Babys, wie mürrisch und jähzornig er sein konnte, wenn er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte.
Die Mädchen waren kaum fort, als Carlotta eine weitere, ganz besondere Scheibe Brot aus ihrem Korb nahm und dem kleinen Jungen in die Hand drückte, als er mit seinem Vater ins Zimmer kam. Da Milo hungrig war, verschlang er das Brot und streckte die Händchen verlangend nach mehr aus. Dieses Mal schnitt Carlotta vor Evans Augen zwei weitere Scheiben von dem bereits angeschnittenen Laib herunter: eine für den Jungen und eine für seinen Vater.
»Sarah könnte doch Butter machen«, sagte sie und war nicht überrascht, als Evan die Augen verdrehte.
»Sie ist schon froh, dass sie endlich melken gelernt hat! Und sie weigert sich, auch nur in die Nähe der Schweine zu gehen. Ich möchte wirklich zu gern wissen, was sie früher gemacht hat. Sie kann weder kochen noch nähen, und es dauert ewig, bis sie mit der Wäsche fertig ist. Auf der anderen Seite ist sie ziemlich gebildet. Sie spricht Französisch und kann lesen und schreiben. Vielleicht war sie Gouvernante oder Lehrerin. Was meinen Sie, Carlotta?«
Die Italienerin zuckte gleichgültig die Schultern. Die Zuchthäuslerin stellte eine Bedrohung für sie dar – das war alles, was sie über diese Frau wissen musste. »Sie hat die Tochter ihres Arbeitgebers bestohlen. Also ist sie nichts weiter als eine gemeine Diebin, und wenn sie noch so gebildet ist!« Sie würde schon dafür sorgen, dass weder Evan noch Gabriel vergaßen, wer Sarah Jones war: eine Gesetzesbrecherin, der man nicht vertrauen konnte.
Kingscote
Edna stand früh auf, zog sich eilig an und ging in den Salon, wo sie die Bücher im Regal nach dem Zeitungsausschnitt durchsuchte. Charlton folgte ihr und versprach, Wache zu stehen, damit sie nicht von ihrem Mündel überrascht wurde. Kurz darauf erschien auch Polly, um Feuer im Herd zu machen. Sie war ganz erstaunt, dass die Ashbys schon auf waren, und fragte Edna, was sie denn suche.
»Ach, nicht so wichtig«, antwortete diese ausweichend. »Kümmere du dich um das Feuer, und setz schon mal den Tee auf, Polly.« Sie wollte dem Mädchen lieber nichts von dem Zeitungsausschnitt und dem Foto erzählen, damit Polly sich ihrem Mündel gegenüber nicht verplappern konnte. Diese Sache ging nur sie selbst, Charlton und Betty etwas an.
Auf dem obersten Bord standen Charltons »gewichtige Bücher«, wie Edna sie nannte, Bände über wissenschaftliche Themen oder über die Landwirtschaft, mit denen sie absolut nichts anfangen konnte; deshalb wusste Edna, dass sie den Ausschnitt in keinem dieser Bücher finden würde. Sie begann also mit dem Bord darunter. Ungefähr in der Mitte stand ein Band von Charles Dickens, American Notes. Als Edna das Buch aufschlug, entdeckte sie zwischen den Seiten eine getrocknete Blume. Sie betrachtete sie nachdenklich, und plötzlich fiel es ihr wieder ein. Am selben Tag, an dem sie Camillas Brief mit dem Zeitungsausschnitt erhalten hatte, hatte sich an ihrer Kamelie die erste Blüte geöffnet. Sie hatte sie gepflückt und dabei an ihre Freundin gedacht, die ihr schrecklich fehlte. Dann hatte sie die Blüte zusammen mit dem Zeitungsartikel über Amelia in das Buch gelegt.
»Das ist merkwürdig, Charlton«, sagte sie. »Der Ausschnitt müsste hier drin sein, zusammen mit dieser Blume.«
»Bist du sicher, Liebes? Gestern konntest du dich nicht erinnern, wo du ihn hingetan hast.«
»Gerade eben ist es mir wieder eingefallen. Ich habe diese Blüte an dem Tag gepflückt, an dem Camillas Brief eintraf. Kamelien erinnern mich immer an Camilla, weil der Name so ähnlich klingt. Und weil die Blüte so wunderschön war, wollte ich sie
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