Die Insel der roten Erde Roman
weit draußen zu wohnen.« Polly schüttelte den Kopf. »Das Wetter dort soll ja meist trostlos sein, und dann noch die Einsamkeit … also, ich würde da glatt überschnappen.«
Amelia musste über Pollys Wortwahl lächeln. »Oh, Cape du Couedic hat auch seine schönen Seiten.« Sie dachte an den Blick vom Kliff aus. »Aber ich kann verstehen, wenn jemand nicht dort leben will. Evan hat die Einsamkeit genossen, aber mit Kindern ist es auf einer so abgelegenen Farm einfach zu gefährlich. Es kann immer eines krank werden, so wie Milo.«
»Mrs Ashbys Mündel war ja für ein paar Stunden am Cape du Couedic, nachdem Sie beide aus dem Meer gerettet worden waren. Aber Miss Divine spricht nicht darüber. Genauso wenig wie über das Schiffsunglück. Sie ist irgendwie … nervös«, fügte Polly in vertraulichem Flüsterton hinzu. Der Blick, den sie Amelia zuwarf, schien besagen zu wollen: Nicht so wie Sie! »War es sehr schlimm?«
»Ich kann mich nicht erinnern«, erwiderte Amelia. »Hat sie denn nicht erzählt, dass ich das Gedächtnis verloren habe, nachdem ich mir an den Klippen den Kopf angeschlagen hatte?«
Polly blickte sie mit großen Augen an. »Nein! Vielleicht hat sie es zu Mrs Ashby gesagt, aber nicht zu mir. Sie können sich an nichts erinnern?«
»An rein gar nichts.«
»Das muss schrecklich sein!«
»Es ist ein Albtraum«, bestätigte Amelia. »Ich weiß nicht, ob ich eine Familie habe, wo ich gelebt habe, oder wo ich geboren bin. Als ich wieder zu mir kam und erfuhr, dass ich eine Strafgefangene bin, die auf Bewährung frei ist, konnte ich es nicht fassen. Ich wusste nicht einmal, welches Verbrechen ich begangen haben soll. Es war Evan Finnlay, der mir sagte, ich sei wegen Diebstahls verurteilt worden. Ich erwarte nicht, dass jemand mir glaubt, aber ich weiß genau, ich kann von meinem Wesen her keine Diebin sein. Schon den bloßen Gedanken finde ich verwerflich.«
Die junge Frau tat Polly Leid. »Kann es denn sein, dass Sie Ihr Gedächtnis wiedererlangen?«
»Ich bete jeden Tag darum. Es sind ja nicht nur die wichtigen Ereignisse, die verloren gegangen sind, sondern auch die vielen kleinen Dinge, die mein Wesen ausmachen. Meine Lieblingsfarbe, zum Beispiel, oder meine Lieblingsspeisen, oder welche Kleider mir gefallen haben, oder ob ich gern ins Theater gegangen bin.«
»Vielleicht kann Dr. Thompson Ihnen helfen«, meinte Polly.
»Ich bezweifle, dass Evan mir erlauben wird, ihn aufzusuchen. Er ist ein sehr strenger Mann. Außerdem hätte ich gar kein Geld für einen Arzt.«
»Mrs Ashby ist eine weichherzige Frau. Ich könnte mir vorstellen, dass sie Ihnen hilft.«
»O nein, das könnte ich niemals annehmen! In zwei Jahren ist meine Zeit bei den Finnlays um. Falls mein Erinnerungsvermögen bis dahin nicht zurückgekehrt ist, werde ich mir eine Stelle suchen und Geld verdienen, bis ich mir einen Arztbesuch leisten kann.«
Sarahs Zimmer lag zur Auffahrt und zu Faith Cottage hin. Eine Stunde lang hatte sie am Fenster gestanden, durch die Vorhänge gespäht und beobachtet, was nebenan vor sich ging. Als sie Edna mit Amelia und den Kindern ins Haus gehen sah, wurde sie von Panik erfasst und erwog ernsthaft, sofort die Flucht zu ergreifen. Stattdessen griff sie zu Ednas Sherry, um ihre Nerven zu beruhigen. Da sie noch nichts gegessen hatte, stieg ihr der Alkohol zu Kopf, betäubte aber wenigstens ihre Angst. Sie starrte wieder zum Fenster hinaus, weil sie wusste, dass Polly drüben in Faith Cottage war. Was machte sie so lange dort? Sarahs Nervosität kehrte zurück. Auf einmal hörte sie Stimmen aus der Küche: Edna unterhielt sich mit ihrem Mann.
»Ich kann nicht glauben, dass diese Sarah Jones eine Strafgefangene sein soll«, sagte Edna. Sarah schlich auf Zehenspitzen zur Tür, um zu lauschen.
»Sie hat die Haltung und Anmut eines Menschen aus sehr guter Familie, und sie ist eine außergewöhnlich attraktive junge Frau«, fuhr Edna fort.
Sarah wurde blass vor Wut und Eifersucht, als sie das hörte. Über sie würde Edna niemals solche Worte sagen!
»Ja, sie ist wirklich ausgesprochen hübsch«, pflichtete Charlton ihr bei. »Und sehr redegewandt. Ich könnte schwören, einen leichten Oxfordshire-Akzent herausgehört zu haben. Es könnte sogar Henley-on-Thames gewesen sein. Ist dir das nicht auch aufgefallen?«
»Nein. Aber unsere Amelia spricht ja praktisch auch akzentfrei. Schließlich war sie noch sehr jung, als sie nach Australien kam. Möglicherweise war das bei Miss Jones auch der
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