Die Insel der roten Erde Roman
Fall. Eins von Evans Mädchen hat übrigens erzählt, Miss Jones spreche Französisch und mache wundervolle Stickarbeiten.«
»Tatsächlich?« Charlton war hörbar überrascht.
Sarah schlug das Herz bis zum Hals. War jetzt alles aus?
»Ich habe sie mir ganz anders vorgestellt«, fuhr Edna fort.
»Ich auch. Es ist zwar nicht nett, so etwas zu sagen, aber Straffällige sind normalerweise wenig gebildet und stammen aus ärmlichen Verhältnissen.«
Zorn loderte in Sarah empor. Sie fühlte sich gedemütigt. Charltons Worte trafen genau auf sie zu. Hätte ihre Mutter sich vor ihrer Ehe nicht ein Mindestmaß an Bildung erworben und an ihre Tochter weitergegeben, hätte Sarah niemals in die Rolle der Amelia Divine schlüpfen können.
»Ich möchte zu gern wissen, durch welche Umstände sie auf die schiefe Bahn geraten ist. Ich glaube, ich kann mir auf meine Menschenkenntnis etwas einbilden, aber ich käme nicht im Entferntesten auf den Gedanken, dass sie im Gefängnis war«, gestand Edna.
»Wir sollten nicht vorschnell über sie urteilen«, sagte Charlton. »Vielleicht ist sie ja zu Unrecht verurteilt worden. Unser Rechtssystem hat leider seine Mängel.«
»Da hast du allerdings Recht«, seufzte Edna.
Sarah konnte es nicht mehr mit anhören. Sie ertrug es nicht, dass die Ashbys Amelia für einen wundervollen Menschen hielten, der ein Opfer unglücklicher Umstände geworden war. Das war nicht fair! Immerhin hatte Amelia den Tod Lucys verschuldet. Sarah stürmte aus dem Zimmer in die Küche. »Diese Zuchthäuslerin ist eine rücksichtslose Egoistin und keineswegs das Opfer tragischer Umstände!«, rief sie erregt aus.
Edna und Charlton blickten sie sprachlos an. Lähmende Stille erfüllte das Zimmer.
»Ich habe gehört, wie ihr über diese Verbrecherin geredet habt«, fügte Sarah hinzu.
»Ja, wir … wir haben uns gerade über sie unterhalten, mein Kind«, sagte Edna, verstört vom Ausbruch ihres Mündels.
»Diese Frau hat Lucys Tod verschuldet! Ihre … meine Begleiterin wäre noch am Leben, wenn sie nicht gewesen wäre!« Um ein Haar hätte sie ihre Begleiterin gesagt. Sarah hatte den Ashbys die Geschichte, die sie Gabriel Donnelly in ihrem Brief geschildert hatte, nie erzählt, um überflüssige Fragen zu vermeiden. Doch sie wollte Edna und Charlton nicht in dem Glauben lassen, die echte Amelia sei das unschuldige Opfer eines Justizirrtums.
»Was willst du damit sagen, Amelia?«, fragte Charlton langsam.
Sarah mobilisierte alle Kraft, um sich zu konzentrieren. »Ich war schon im Rettungsboot, als … als ich sah, wie Sarah Jones Lucy beiseite stieß, um … ins Boot zu gelangen. Daraufhin war kein Platz mehr an Bord, und Lucy musste auf der Gazelle bleiben. Die Selbstsucht dieser … Person hat Lucy das Leben gekostet.«
»O Gott!«, stieß Edna schockiert hervor, fragte sich aber unwillkürlich, warum sie bisher nie etwas davon erwähnt hatte. Sie warf Charlton einen schuldbewussten Blick zu. »Komm, setz dich, Amelia, trink einen Tee.« Roch der Atem ihres Mündels nach Sherry? Nein, sie musste sich täuschen. Amelia hatte noch nie Sherry angerührt. Und so früh am Tag würde sie niemals zur Flasche greifen.
»Ich will aber keinen Tee«, fuhr Sarah ärgerlich auf. Sooft sie daran dachte, was die echte Amelia Lucy angetan hatte, packte sie der Zorn.
»Die Menschen an Bord müssen schreckliche Angst gehabt haben, als das Schiff aufs Riff lief«, sagte Edna behutsam. »In einer solchen Situation reagiert man anders als im Normalfall. Ich sage nicht, dass es richtig war, was Sarah Jones getan hat, aber sie hat sicherlich Todesangst gehabt, wie alle anderen auch.«
»Edna hat Recht, Amelia. Bestimmt haben alle gedrängelt und sich gegenseitig weggestoßen, weil jeder einen Platz im Rettungsboot wollte«, meinte Charlton.
Sarah presste in ohnmächtiger Wut die Lippen zusammen. Sie konnte den Ashbys nicht sagen, dass die echte Amelia Lucy befohlen hatte, das Rettungsboot wieder zu verlassen, damit sie ihren Platz einnehmen konnte. Schließlich hielten die Ashbys sie für eine Zuchthäuslerin, und eine solche Frau könnte sich so etwas niemals erlauben. Statt empört zu sein, wie sie gehofft hatte, rechtfertigten die Ashbys jetzt auch noch ihr Verhalten.
»Es gibt keine Entschuldigung für ihre Handlungsweise«, fauchte sie. »Ich werde ihr das niemals verzeihen!« Sie fuhr herum, stürmte in ihr Zimmer und knallte die Tür zu.
Edna und Charlton sahen sich erstaunt an.
»An Bord muss die Hölle los
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