Die Insel der roten Erde Roman
mussten. Er würde Gabriel die Aufstellung mitgeben, wenn er Sonntag nach Kingscote zurückfuhr. Da nun kein Pferd mehr zur Verfügung stand, um nach Rocky River zu reiten und dort die Post abzuholen, schrieb er als Nächstes an die zuständige Stelle in Kingscote und bat darum, die Post künftig per Schiff zuzustellen. Doch er hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Der Streit zwischen Gabriel und Carlotta, den er am Vorabend zufällig belauscht hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Sinn.
Am Nachmittag legte Gabriel sich ein wenig hin. Er hatte darauf bestanden, in dieser Nacht die erste Schicht zu übernehmen. Das sei nicht nötig, hatte Edgar ihm versichert, doch Gabriel beharrte darauf: Er wolle ein letztes Mal den Blick vom Leuchtturm genießen, gestand er. Edgar konnte ihn gut verstehen, und so gab er schließlich nach, auch wenn ihn davor graute, die halbe Nacht neben seiner Frau schlafen zu müssen.
Carlotta, der den ganzen Tag zum Heulen zumute war, hatte sich mit Kochen und Backen abgelenkt und war dann früh zu Bett gegangen. Edgar legte sich wenig später ebenfalls hin, damit er Gabriel gegen Mitternacht ablösen könnte. Eine Stunde verging, doch Edgar fand keinen Schlaf. Zu viele schreckliche Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Auf einmal hörte er, wie Carlotta aus dem Bett schlüpfte. Sie zog sich im Dunkeln an und schlich auf Zehenspitzen hinaus. Edgar folgte ihr. Als sie leise die Haustür öffnete, um ihren Mann nicht zu wecken, war ihm klar, was sie vorhatte.
»Leg dich wieder hin, Carlotta! Auf der Stelle!«, herrschte er sie zornig an.
Zu Tode erschrocken, fuhr sie herum. Sie konnte in der Dunkelheit nur seine Silhouette erkennen. »Ich … ich wollte nur ein wenig spazieren gehen«, stammelte sie. Es war eine törichte Ausrede, denn es nieselte, und sie hatte sich nicht einmal einen Mantel übergezogen.
»Hast du nicht gehört?«, stieß Edgar drohend hervor. »Du bist meine Frau! Du tust, was ich sage!«
Carlotta starrte ihn fassungslos an. So hatte sie ihren Mann noch nie erlebt.
»Sobald Gabriel fort ist, wirst du in sein Haus ziehen oder das Kap verlassen. Mach, was du willst, in mein Schlafzimmer kommst du mir jedenfalls nicht mehr! Wenn meine Dienstzeit hier um ist, werde ich nach England zurückkehren, und zwar allein, und ich werde zu Gott beten, dass ich vergesse, dir begegnet zu sein!«
Zum ersten Mal im Leben hatte es Carlotta die Sprache verschlagen. Ohne ein Wort eilte sie an ihrem Mann vorbei ins Schlafzimmer und zog sich wieder aus. Edgar folgte ihr. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm eine Zentnerlast von den Schultern genommen worden. Die Eheschließung mit Carlotta war der größte Fehler seines Lebens gewesen. Doch er hatte nicht die Absicht, bis ans Lebensende dafür zu büßen. Niemand konnte ihm vorwerfen, er hätte nicht alles versucht. Er hatte nicht erwartet, dass seine Frau ihn liebte, aber zumindest auf ihre Treue hatte er sich verlassen.
Am anderen Tag beschloss Gabriel, zur Farm zu gehen. Evan würde ihn sicherlich fragen, ob er nach dem Rechten gesehen habe. Eines Tages, wenn seine Kinder erwachsen wären, wollte Evan zurückkehren. An einen Verkauf der Farm war ohnehin nicht zu denken – wer wollte schon an einem so abgelegenen Ort wohnen? Außerdem wollte er später an der Seite seiner Jane und des kleinen Joseph beerdigt werden. Er hatte das Gefühl, dorthin zu gehören. Dieser Gedanke tröstete ihn und gab ihm Kraft. Als er die zwei Gräber vor dem Aufbruch nach Kingscote noch einmal besucht hatte, hatte er geschworen, wiederzukommen. Und irgendwie hatte er das Gefühl, Janes Segen zu haben; schließlich handelte er im Interesse ihrer Kinder.
Carlotta beobachtete Gabriel vom Fenster aus. Sie und Edgar waren sich seit dem Vorabend aus dem Weg gegangen. Als sie jetzt sah, dass Gabriel den Pfad zur Finnlay-Farm einschlug, erkannte sie, dass dies wahrscheinlich ihre letzte Gelegenheit wäre, mit ihm allein zu sein. Edgar war oben im Leuchtturm; von dort aus würde er nicht sehen können, wenn sie Gabriel folgte.
Auf der Farm überprüfte Gabriel zuerst die Dächer des Haupthauses und der Hütte, die Amelia als Unterkunft gedient hatte. Es kam vor, dass der Wind unter die dünnen, strohgedeckten Eisenbleche fuhr und sie hochriss. Anschließend ging er zur Rückseite des Hauses, um sich zu vergewissern, dass die Wände intakt waren. Wombats und Beutelratten fanden schnell heraus, wenn ein Haus verlassen war, und schafften es meist im Handumdrehen,
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