Die Insel der roten Erde Roman
»Überlassen Sie das nur mir.« Er hatte die halbe Nacht Pläne geschmiedet, wie sie es anstellen könnten, einmal allein zu sein.
»Ich muss gehen«, sagte Amelia. »Sonst holt mich Evan noch.«
Gabriel ergriff ihre Hand und drückte sie liebevoll. »Bis später.« Amelia blickte lächelnd zu ihm auf. Ihre braunen Augen schimmerten im ersten Morgenlicht.
Nach dem Frühstück brachen Amelia und die Finnlays nach Weirs Cove auf, wo das Versorgungsschiff anlegen würde. Alle mussten mit anpacken, um die Vorräte – und die sechs Ferkel, auf die Evan sich schon freute – zur Farm zu transportieren.
Die Argyle ging auf hoher See vor Anker. Die Vorräte wurden in ein kleineres Boot umgeladen. Drei Mal fuhr es zwischen dem Schiff und der Anlegestelle hin und her, bis sämtliche Fracht an Land gebracht war. Gabriel packte das Frachtnetz voll, und Evan zog es mit der Winde das Kliff hinauf. Es war eine beschwerliche Arbeit, die sich über Stunden hinzog. Die Ferkel quiekten in ihren Holzverschlägen auf dem Anleger.
»Die hören sich putzmunter an«, frohlockte Evan.
»Die hören sich grauenvoll an«, bemerkte Amelia.
Es war Nachmittag, und alle waren müde und erschöpft. Amelia und die Finnlays hatten den Weg zur Farm inzwischen einige Male zurückgelegt und sich mit ausreichend Lebensmitteln für mehrere Wochen versorgt. Die restlichen Vorräte wurden im Schuppen eingelagert. Gabriel hatte Carlotta eine Liste in die Hand gedrückt, auf der vermerkt war, wer was bestellt hatte, und sie gebeten, alles entsprechend zu sortieren. Er hoffte, sie würde den ganzen Abend damit beschäftigt und anschließend rechtschaffen müde sein. Er hatte nämlich noch etwas vor.
»Wir treffen uns um neun hinter dem Hühnerstall«, flüsterte er Amelia zu, als er ihr ein Säckchen Salz reichte.
Sie nickte kurz, warf ihm aber einen beunruhigten Blick zu.
»Keine Sorge, es geht schon alles gut«, versicherte er ihr.
Wieder nickte sie und vergewisserte sich mit einem flüchtigen Blick in Carlottas Richtung, dass sie nicht belauscht worden waren. Dann schaute sie Gabriel an. Er lächelte ihr aufmunternd zu – und da wusste sie, dass alles gut würde.
11
Als Sarah von ihrem Mittagsschlaf erwachte, hörte sie Stimmen in der Küche. Die von Edna erkannte sie sofort, doch es dauerte einige Zeit, bis sie die andere Stimme zuordnen konnte: Sie gehörte Betty Hammond. Sarah bekam Herzklopfen. Ob die Aborigine gekommen war, um ihr Ärger zu machen? Der Lärm von Kindern lenkte Sarah ab. Sie spähte durch die Vorhänge und sah zwei Jungen von etwa sieben und acht Jahren und ein vielleicht fünfjähriges Mädchen in der Einfahrt spielen. Es waren dieselben Kinder, die sie auf der Straße gesehen hatte: Bettys kleine Bastarde.
»Warum sind die Kinder nicht in der Schule, Betty?«, hörte sie Edna in der Küche fragen. »Ich dachte, montags haben sie auch am Nachmittag Unterricht.«
»Heute ist die Schule den ganzen Tag geschlossen, Missus. Das Klassenzimmer wird neu gestrichen.«
Porzellan klirrte, eine Tasse wurde auf den Unterteller gestellt. Von draußen drang die Stimme einer Frau herein, und Sarah blickte wieder aus dem Fenster. Eine schlanke junge Dame war bei den Kindern stehen geblieben. Sie trug ein dunkelbraunes Kleid und einen großen, mit einem cremefarbenen Band verzierten Hut. Sie hatte Sarah den Rücken zugekehrt.
»Guten Tag, Kinder«, sagte sie im Tonfall einer Lehrerin.
»Guten Tag, Miss Strathborne«, grüßten die Kinder im Chor.
»Hast du die Hausaufgaben schon gemacht, die ich dir am Freitag gegeben habe, Ernest?« Der Junge war ein gutes Stück den riesigen Baum an der Einfahrt hinaufgeklettert. Seine Äste hingen über den Weg und hielten die Sonne davon ab, in Sarahs Fenster zu scheinen.
»Ja, Miss Strathborne.«
»Bist du sicher, Ernest?«, fragte sie, als der Junge ihrem Blick nicht standhalten konnte. »Ich werde mich bei deiner Mutter erkundigen.«
Der Junge riss erschrocken die Augen auf und ließ dann den Kopf hängen. »Ich bin … äh, fast fertig, Miss Strathborne.«
»Du hättest gleich die Wahrheit sagen sollen, Ernest. Jungen, die lügen, werden zu Rüben«, sagte sie, wobei sie ihm mit dem Zeigefinger drohte. Sie dachte sich stets solche Merkverse für die Kinder aus. »Kletter nicht zu hoch hinauf, sonst fällst du am Ende noch herunter!« Die junge Frau wandte sich zu dem jüngeren Buben um, und jetzt konnte Sarah ihr Profil sehen. Sie hatte eine
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