Die Insel Der Tausend Quellen
Verstorbenen mit scheinbarer Gelassenheit durch. Danach stürzte er sich mit dem gleichen Heißhunger auf die Speisen wie Nora. Der missbilligende Blick des Reverends, der selbst ungewohnt verhalten zugriff, störte keinen von ihnen. Laut wurde bei diesem Dinner überhaupt nur Elias, der nun endlich begriffen hatte, was sein Sohn ihm seit Wochen zu sagen versuchte.
»Dieser verdammte Hollister! Seine Pflanzung ist kaum beschädigt, ich hab’s mir angesehen. Dafür ist unser Sklavenquartier vollständig hin – aber das wird er mir bezahlen, und auch die Verluste. Acht Sklaven, davon fünf Feldnigger in den besten Jahren! Und zwei Ochsengespanne! Dieser Experte aus England wird was zu hören bekommen …« Elias erregte sich lauthals und trank ein Glas Rum nach dem anderen. Hunger schien auch er nicht zu haben. »Allein, was das kostet, das alles wieder aufzubauen. Die Destillerie ist auch hin …«
Doug und Nora ließen ihn wüten, entschuldigten sich dann aber gleich nach dem Essen, desgleichen der Reverend. Letzterer wollte noch einmal nach seiner Frau sehen und mit ihr ein paar weitere Gebete für seinen Sohn sprechen. Nora fiel auf, dass er seiner geretteten kleinen Tochter kaum eine Bemerkung widmete. Wahrscheinlich wäre es ihm lieber gewesen, es hätte Mary getroffen.
Elias erhob sich dann zwangsläufig ebenfalls, rief Adwea, die zum Abdecken des Tisches kam, aber noch etwas zu.
»Addy … lass mir später noch einen Schlaftrunk hinaufbringen!«
Nora fiel auf, dass Adwea erstarrte.
»Heute, Backra?«, fragte die Sklavin. »Herr, bitte … Mädchen ist todmüde …«
»Natürlich heute!«, fuhr Elias sie an. »Wenn ich morgen meinte, hätte ich morgen gesagt!«
Adwea warf ihrem Herrn einen Blick zu, der Nora erschreckte. Sah sie da einen Funken des Hasses aufblitzen, der so oft in Máanus Augen stand?
»Sicher, Herr. Wie Backra befehlen …«
Nora stieg mühsam die Treppen hinauf – ihr tat alles weh, und am kommenden Morgen würde es sicher noch schlimmer kommen. Sie wunderte sich ein bisschen über Adwea. Máanus Mutter hatte als Köchin zwar eine privilegierte Stellung im Haus, aber sie war nicht dünkelhaft. Warum also brachte sie Elias den Rumpunsch nicht einfach selbst hinauf, wenn Mansah und Sally schon schliefen? Nora dachte kurz daran, selbst rasch in die Küche zu gehen, das Getränk zu holen und ihrem Mann zu bringen. Aber womöglich brachte ihn das auf dumme Gedanken, und sie hätte es nicht ausgehalten, Elias an diesem Abend noch beizuliegen. Also ging sie hinauf – und traf Doug vor ihren Räumen.
»Ich wollte dich noch einmal im Arm halten«, entschuldigte er sich flüsternd. »Und am liebsten … Nora, wir waren uns heute so nah …«
Nora nickte. Sie war zu müde zum Kokettieren – und auch sie hätte nichts dagegen gehabt, in Dougs Armen einzuschlafen. Dann würden sie die Bilder und Stimmen auch nicht verfolgen, die sie jetzt schon quälten.
Nora seufzte. »Ja, ich möchte auch noch einmal umarmt werden. Bevor wir … bevor wir dies hier wieder vergessen.«
Sie schmiegte sich in Dougs Arme und spürte noch einmal seine Kraft und seinen Schutz. Sie gingen ein gewaltiges Risiko ein, aber Nora hatte sich selten so sicher gefühlt wie an Dougs breiter Brust.
Eine andere blieb ungeschützt. Sie wartete zitternd auf der Treppe, bis das Paar sich trennte, und weder Doug noch Nora hörten das leise Tapsen ihrer nackten Füße auf dem Flur vor Elias Fortnams Räumen. Wenn Nora später ihr Weinen hörte, so hielt sie es nur für ein Echo aus einem bösen Traum.
KAPITEL 4
D er folgende Tag begann mit einem deprimierenden Blick aus dem Fenster. Nora pflegte stets als Erstes zum Meer hinüberzublicken und sich an dem Streifen Blau hinter dem satten Grün des Waldes zu erfreuen. Aber an diesem Morgen waren von dem Dschungelstreifen zwischen Garten und Strand nur die Wipfel der kräftigsten Bäume zu sehen, die aus dem rötlich braunen Wasser herausragten. Noch immer war das Land bis kurz vor der Anhöhe, auf der das Haupthaus von Cascarilla Gardens stand, überflutet. Die Sklavenquartiere oder das, was von ihnen übrig geblieben war, mussten noch vollständig unter Wasser stehen. Auch der Garten bot einen traurigen Anblick. Der Sturm hatte einen großen Teil der Bäume entwurzelt, der Regen Teile der Beete weggeschwemmt. Auch Noras geliebter Pavillon war schwer beschädigt. Nora dachte mit einem Anflug von Humor, dass er etwa so zerschlagen aussah, wie sie sich fühlte. Jeder Muskel
Weitere Kostenlose Bücher