Die Insel Der Tausend Quellen
leisten könnten. Nora gab es schließlich auf. Sie würde erst mal kochen und dafür sorgen, dass Simon es warm und gemütlich hatte. Vielleicht brauchten sie dann ja wirklich keinen Arzt mehr. Noras Erkältungen waren früher immer schnell ausgeheilt, wenn die Haushälterin das lebhafte Mädchen erst mal dazu bewogen hatte, ein paar Tage im Bett zu bleiben.
Nora nahm an, dass sie dazu auch Simon würde nötigen müssen, aber den zwang schon seine Schwäche aufs Lager. Am Morgen hatte er noch geplant, auszugehen, um sich nach einer neuen Arbeit umzusehen. Noras Anwesenheit hatte ihn beflügelt. Aber dann war das Fieber wieder gestiegen, noch bevor er ganz angekleidet war. Er hatte sich kaum wieder ausziehen und zurück ins Bett schleppen können, und als Nora wiederkam, ging es ihm schlechter als am Tag zuvor.
»Das braucht auch mindestens eine Woche!«, tröstete sie ihn und zeigte ihm dann stolz ihre Einkäufe.
Simon war beeindruckt, als die junge Frau den Kessel ganz selbstverständlich über die Feuerstelle hängte und die Knochen in Wasser auskochte, das sie ebenfalls beim Krämer gekauft hatte. Zu ihrer Verwunderung hatte sie in zwei Läden nachfragen müssen, bevor sie jemanden fand, der Quellwasser feilhielt, und es war teurer gewesen als Bier!
»Woher kannst du das?«, fragte Simon verblüfft, als Nora begann, Kohl zu schneiden und Kartoffeln zu schälen.
Nora lachte. »Meine Mutter ist doch so früh gestorben, und mich haben dann alle verwöhnt, die Köchin und die Haushälterin und der Butler. Aber mein Kindermädchen hatte eine Tändelei mit dem Hausdiener, und wenn der ein bisschen Zeit hatte, setzte sie mich in der Küche ab. Ich durfte in die Töpfe gucken und helfen. Wie du siehst, kann ich’s noch!«
Ganz so großartig, wie sie erhofft hatte, fiel ihr Eintopf dann aber doch nicht aus – über all die Preisvergleiche hatte Nora Salz und Pfeffer vergessen, und so schmeckte die Suppe ziemlich fad. Aber sie war sättigend, und auch die kleinen Tanners bekamen etwas ab. Sie schlangen die karge Mahlzeit heißhungrig herunter. Ihre Mutter bedankte sich dafür unter Tränen.
»Sie sollten doch nur auf sie achten«, meinte sie schüchtern. »Sie mussten sie nicht gleich füttern.«
Nora war erneut erschrocken, als sie hörte, dass die Kinder sonst tagsüber nur einen Kanten Brot zu kauen hatten. Jetzt fragte sie Mrs. Tanner aber erst mal nach einem Arzt, und die junge Frau wusste tatsächlich jemanden.
»Dr. Mason. Aber der ist nicht billig … und ob er gut ist … Eigentlich sind alle gestorben, von denen ich weiß, dass er zu ihnen gerufen wurde. Aber die waren sowieso meistens schon fast tot. Und er muss ein guter Kerl sein, wenn er hier praktiziert, wo ihn doch keiner bezahlen kann.«
Oder ein so schlechter Arzt, dass er anderswo überhaupt keine Patienten hätte, dachte Nora, aber das sagte sie lieber nicht laut. Sie wollte auch gar nicht daran denken. Dr. Mason musste ein guter Arzt sein! Und ein guter Mensch … Nora machte sich gleich zu ihm auf den Weg. Sie war äußerst besorgt, da Simons Fieber im Laufe des Tages weiter gestiegen war. Jetzt am Abend plagten ihn wieder Hustenanfälle und Schüttelfrost, es war sicher gut, wenn Dr. Mason bald nach ihm sah.
Der Arzt wohnte noch im Eastend, allerdings in einem Grenzbezirk zu einer besseren Wohngegend. Er schien auch Personal zu haben, auf jeden Fall öffnete Nora eine ältere Frau in der Kleidung eines Hausmädchens. So gepflegt wie die Dienstboten im Reed’schen Haushalt wirkte sie jedoch nicht.
»Husten, Kindchen?«, kommentierte sie Noras Schilderung von Simons Symptomen. »Und der Mann liegt noch nicht im Sterben?« Die Frau schüttelte missbilligend den Kopf. »Nee, dafür kommt der Doktor nicht raus, jetzt am Abend, es ist ja bald mitten in der Nacht! Da kommen Sie mal morgen wieder. Wenn er dann nichts zu tun hat, geht er mit …«
Noras Versuch, zumindest einen festen Termin für einen Hausbesuch am nächsten Tag zu vereinbaren, verlief im Sande. Anscheinend engagierte sich Dr. Mason nur, wenn die Angehörigen der Kranken es wirklich ernst meinten und ihn abholten. Die junge Frau bemühte sich, das nicht als schlechtes Zeichen zu sehen. Wahrscheinlich hatte der Arzt einfach schon zu oft vor verschlossenen Türen gestanden, wenn die Familie beschlossen hatte, sich seinen Besuch eigentlich doch nicht leisten zu können.
Nora verbrachte eine weitere unruhige Nacht auf dem Boden vor der Feuerstelle und setzte im Stillen eine
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