Die Insel der verlorenen Kinder
den Laden zur Werkstatt hinüber. Suzy setzte sich an den Tisch, drehte einen der Suchzettel mit dem Foto von Ernie um und kritzelte etwas auf die leere Rückseite.
«Und wie sieht dieses Meerschweinchen aus?», fragte Warren, mehr zu Suzy als zu Rhonda gewandt.
«Sadie ist ein Albino», antwortete Suzy. «Sie ist ganz weiß und hat rote Augen. Wie ein Gespenst.»
Suzy begann, einen Tintenfisch zu zeichnen, und zählte seine Beine sorgfältig ab.
«Ehrlich?», meinte Warren. «Das ist ja cool. Wann darf ich sie kennenlernen?» Jetzt blickte er zu Rhonda hinüber.
«Jederzeit», antwortete Rhonda schnell, bevor sie es sich noch einmal anders überlegen konnte.
«Heute? Wenn wir hier fertig sind?», schlug Warren vor.
«Warum nicht», gab Rhonda zurück.
«Sie mag Äpfel», erzählte ihm Suzy.
«Na, dann sollte ich besser mal schauen, ob ich nicht einen finde. Ich will ja nicht beim ersten Mal mit leeren Händen dastehen und gleich einen schlechten Eindruck hinterlassen.» Er stand auf und ging zum Kühlregal, wo er einen Apfel suchte.
«Der ist nett», sagte Suzy.
«Ja, da hast du recht», stimmte Rhonda ihr zu. Hatte sie wirklich gerade eben Warren zu sich eingeladen? Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Und warum wollte er überhaupt kommen? Na ja, vielleicht mochte er eben einfach Tiere.
«Daddy sagt, ihr helft mit, Ernie zu suchen», bemerkte Suzy und blickte von ihrem Bild auf. Der Tintenfisch hatte inzwischen alle acht Beine, und ein lächelnder Seestern leistete ihm Gesellschaft.
«Klar, wir tun, was wir können», sagte Rhonda. Aber in Wirklichkeit taten sie einen Scheißdreck. Und zwar alle miteinander.Achtundvierzig Stunden waren jetzt vergangen, und noch immer gab es nicht den geringsten Hinweis auf das kleine Mädchen. Es war, als hätten sich das Kind und der Hase samt Unterseeboot einfach in Luft aufgelöst.
Es hätte genauso gut Suzy erwischen können,
dachte Rhonda und strich der Kleinen durchs Haar.
Oder jedes andere Mädchen.
«Hi, Suzy? Wusstest du eigentlich, dass der Hase Ernie besucht hat?», fragte Rhonda.
«Ja. Er ist zur Schule gekommen.»
«Du hast ihn gesehen?»
«Nein. Gesehen hat ihn nur Ernie. Sie hat gesagt, sie ist ein Glückspilz. Peter hätte sie ausgesucht, weil sie etwas Besonderes ist. Ich hab nur den
anderen
Peter gesehen.»
Was malte Suzy denn jetzt? Ließ sie da etwa einen Hasen durch die Unterwasserszene hoppeln?
«Welchen anderen Peter denn?» Rhondas Herz schlug plötzlich schneller.
Nein, ein Hase war das nicht. Suzy malte einen Engelhai.
«Den aus Plüsch. So eine Art Kuscheltier. Ernie hat gesagt, der echte Peter hätte ihr den Plüschpeter geschenkt, damit sie Gesellschaft hat. Damit sie sich nicht einsam fühlt, wenn er nicht bei ihr sein kann.»
«Er hat ihr einen Plüschhasen geschenkt?»
«Mhm. Er war weiß und flauschig, ist aber bald schmuddelig geworden.»
«Los, Suzy, schnapp dir dein Pferd, wir reiten heim!», rief Peter scherzhaft, während er steifbeinig auf sie zuging.
«Das ging ja schnell», sagte Rhonda erstaunt.
«Gefeuert ist man in null Komma nichts», antwortete Peter, um einen beiläufigen Ton bemüht. Aber Rhonda hörte das leichte Beben in seiner Stimme.
«Bitte?», fragte sie entgeistert.
«Ich bin entlassen worden. Die sagen, es schadet dem Geschäft, wenn ich weiter hier arbeite.»
«Das können sie doch nicht machen.»
«Doch, klar.» Peter zuckte die Achseln. «Das hier ist eine kleine Stadt. Die Leute reden.» Er holte tief Luft und atmete ruhig und langsam aus. Nur jemand, der ihn so gut kannte wie Rhonda, konnte seine Miene deuten: Es kochte in ihm.
«Weswegen denn?», fragte Suzy.
«Wegen lauter Quatsch», sagte Peter. «Und jetzt pack dein neuestes Meisterwerk ein und komm mit. Wir müssen noch einkaufen und das Abendessen kochen, bevor deine Mama heimkommt.»
«Ich wusste gar nicht, dass Meerschweinchen so mitteilungsfreudig sind», meinte Warren, der in Rhondas Wohnzimmer auf dem Boden kniete und Sadie streichelte, die ihn quiekend begrüßt hatte und jetzt leise Laute von sich gab.
«Ich glaube, sie hat was für dich übrig.»
«Aber bestimmt nur wegen der Apfelschnitze, die ich ihr mitgebracht habe.» Er steckte die Hand in den Glaskäfig und fütterte sie mit dem nächsten Stückchen. «Diese roten Augen sind ein bisschen unheimlich.»
«Bei manchen Naturvölkern schreibt man Albinos magische Kräfte zu», sagte Rhonda.
Warren zog die Augenbrauen hoch. «Jetzt sag mir abernicht, dass
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