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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer McMahon
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aus dem Hörer wie von einer weit entfernten Schlange. «Gestern Nacht hatte sie einen ihrer schlimmsten Anfälle überhaupt. Hat Peter dir das gesagt? Mein Gott, ich kann kaum glauben, dass er sie überhaupt zu Pat mitgenommen hat, wo es da nur so von allem wimmelt, was an Ernie erinnert   … Das ist einfach zu viel. Sie ist noch ein
kleines Kind
, Rhonda. Ein sehr verstörtes kleines Kind mit einer schweren Krankheit, die wir zurzeit nicht gut unter Kontrolle haben.» Tacks Stimme klang gepresst. Es klang so, als könnte sie jeden Moment entweder losheulen oder losbrüllen.
    «Tut mir leid, Tack. Meine Güte, ich würde doch nie was machen, was Suzy schadet oder sie verstört. Ich hab mich einfach nur mit ihr unterhalten. Tut mir leid. In Zukunft werde ich vorsichtiger sein.» Rhonda hatte sich mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt und ließ sich nun nach unten rutschen, bis sie auf dem Boden saß.
    «Danke. Mehr verlange ich gar nicht von dir.»
    «Sicher», sagte Rhonda. «Danke für deinen Anruf, Tack. Dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast.» Sie begann, wieder aufzustehen.
    «Hör mal, da ist noch was. Hast du gestern meine Mutter im Wohnwagen besucht?»
    Rhonda holte tief Luft und ließ sich wieder nach unten rutschen. Shit. «Ja. Ich wollte einfach nur sehen, wie es ihr geht.»
    «Und du hast so einen Typ mitgebracht   … einen Filmregisseur oder so?»
    «Ich habe einen Freund mitgebracht. Meinen Freund Warren. Er ist eigentlich gar kein   …»
    «Meine Familie hat in den letzten Tagen viel durchgemacht. Ich weiß nicht, wieso du meintest, eine verwirrte Alte und ein kleines Kind ausfragen zu müssen, und was du da eigentlich zu finden gehofft hast, aber du bist nicht die Polizei, Rhonda. Du hast nicht die Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken, das ist nicht dein Job. Du bist einfach nur eine
Zeugin
. Eine Zeugin, die noch dazu keinen Finger krumm gemacht hat, was, sehen wir den Tatsachen ins Auge, ganz schön verdächtig ist, oder?»
    Bevor Rhonda noch etwas erwidern konnte, legte Tack auf, und für Rhonda, die ohnehin fix und fertig war, hörte sich der Nachhall wie ein lautes Kreischen an.

s?
    31.   Mai 1993
    Zwei Wochen vor seinem Geburtstag zog Clem nachts in sein Arbeitszimmer um. Dort schlief er auf einem kleinen Sofa; die langen Beine hingen über die eine Armlehne, und auf der anderen lag ungemütlich hoch der Kopf. Wenn er morgens aufwachte, wankte er fragezeichenförmig aus seinem neuen Schlaflager heraus, humpelte in die Küche und kochte sich erst einmal einen Kaffee. Bei der zweiten Tasse hatte er sich allmählich wieder aufgerichtet.
    «Warum schläfst du im Arbeitszimmer?», fragte Rhonda, nachdem sie begriffen hatte, dass das als Dauerlösung geplant war.
    «Deine Mutter konnte nicht einschlafen, weil ich so schnarche», antwortete er.
    «Du schnarchst, Daddy?»
    Er zuckte die Schultern und wendete den Kaffeebecher in der Hand hin und her.
    Rhonda sah zu, wie er sich nach diesen Nächten auf dem Sofa für die Arbeit fertig machte (damals war Clem der Chef der Sägemühle   – Dave Lancaster war in Rente gegangen), und fragte sich, was da wirklich vor sich ging. Durch die Wände bekam sie Bruchstücke von Streitereien mit. Gedämpfte Gespräche. Sie verstand nie genug, um dahinterzukommen, worüber ihre Eltern eigentlich stritten; nur eines war klar – ihre Mutter schien ihrem Vater sehr böse zu sein. Und so viel wusste Rhonda: damit, dass ihr Vater schnarchte, hatte das nichts zu tun.
    Rhonda beschloss, ihm etwas ganz Besonderes zum Geburtstag zu schenken. Sie würde etwas für ihn zeichnen. Ein richtig schönes Bild. Sie würde sich Zeit nehmen und eine Studie von etwas anfertigen, was ihm wirklich am Herzen lag. Aber was? Sie ging im Kopf die Dinge durch, die ihr Vater mochte: schwarzen Kaffee, Camel-Zigaretten ohne Filter, deutsches Bier und den Amerikanischen Bürgerkrieg. Der Krieg erschien ihr als der aussichtsreichste Kandidat für ein gutes Bild.
    Ihr Vater verbrachte fast seine gesamte Freizeit damit, Bücher über diesen Krieg zu lesen sowie Schlachtenpläne und Landkarten zu studieren. Jeden Monat traf er sich für ein Wochenende mit Gleichgesinnten, um Neuinszenierungen zu planen. Clem besaß ein kratziges Wollkostüm und marschierte mit einer Muskete auf Paraden, er zog zu Jahrmärkten und beteiligte sich an Aufführungen von Bürgerkriegsschlachten entlang der ganzen Ostküste. Rhonda begriff diese Faszination oder sogar Obsession ihres Vaters

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