Die Insel der verlorenen Kinder
sie dann später in Sichtweite der Basisstation kamen, wurden sie sogleich von Fernsehkameras empfangen.
«Sind Sie verletzt, Trudy?», rief einer der Reporter.
«Wurde schon etwas gefunden?», fragte ein anderer.
Trudy ließ den Kopf hängen, und Warren trat schützend vor sie. «Lassen Sie sie doch um Himmels willen in Ruhe», fuhr er die Reporter an.
«Man kann träumen, so viel man will», flüsterte Trudy, und ihr Atem streifte heiß über Rhondas Ohr. «Aber irgendwann schaltet immer jemand das verdammte Licht an.»
Den ganzen Tag über wurden die Berge abgesucht, aber von Ernie gab es keine Spur. Am nächsten Vormittag entdeckte jemand von der Freiwilligen Feuerwehr dann einen Knochenhaufen hinter einer Felsgruppe. Die Kriminaltechniker wurden gerufen und stellten fest, dass die Knochenbruchstücke tierischen Ursprungs – höchstwahrscheinlich von Rehen und Hirschen – waren: Der Feuerwehrmannhatte das Lager eines Coyoten gefunden. Die Nachrichtenkameras zeichneten Bilder einer erschütterten Trudy auf, deren Arm fest von Pat umklammert wurde, als müsste sie sie daran hindern wegzufliegen. Am Ende des Tages gingen die Suchtrupps nach Hause, und alle waren überzeugt, dass Ernie Florucci, wo immer sie sein mochte, jedenfalls definitiv nicht im Naturschutzpark war.
Rhonda und Warren kehrten zu Pat zurück, um sich zu erkundigen, ob irgendwelche neuen Informationen eingegangen waren. Das Telefon wurde von dem heute besonders sauertöpfischen alten Cecil bewacht, der eine schlimme Hüfte hatte und deshalb nicht bei der Suche im Naturschutzgebiet hatte mithelfen können.
«Nichts, aber auch gar nichts. Das Telefon hat nicht ein einziges Mal geläutet. Das Highlight des heutigen Tages war, als diese kleine Katy mir die verdammten Brownies gebracht hat.» Boshaft zeigte er auf das Tablett mit leckeren Küchlein. «Ungefähr die Hälfte habe ich gegessen –
genau
das Falsche bei meinem Zucker. Der Doc hat mir Tabletten verschrieben, vielleicht nehm ich einfach heute Abend eine zusätzlich.» Seufzend grübelte er noch einen Moment über sein Pech nach. «Ach, und für euch hat sie das hier dagelassen.» Er reichte den beiden einen großen braunen Umschlag, auf dem in rosa Filzstiftfarbe WARREN & RHONDA stand.
«Verdammt schade, dass ihr im Wald nichts gefunden habt. Als ich euch heute Nachmittag in den Nachrichten gesehen habe, hat mir Patty fast so leid getan wie Trudy. Patty nimmt es wirklich schwer.»
Warren nickte. «Sie tut, was sie kann.»
«Weißt du, damals, als Rebecca ums Leben kam, war ich auch schon bei der Feuerwehr», sagte Cecil und rieb sich das stopplige Kinn. «Ich war einer der Ersten, die auf der Bildfläche erschienen. Ich hab mir damals Patty geschnappt und sie da weggeführt. Sie musste wirklich nicht auch noch mit eigenen Augen ansehen, dass von ihrer kleinen Schwester nur noch Hackepeter übrig war.»
«Rebecca?», fragte Rhonda. Sie hatte diese Geschichte noch nie gehört.
«Die kleine Schwester von meiner Mom und von Pat», erklärte Warren. Rhonda erinnerte sich an das Foto in Pats Büro, an das kleinste Mädchen in der Reihe, das Schleifen im Haar getragen hatte.
«Sie wurde 1973 von einem Holzfuhrwerk überfahren. Ich bin ja kein Seelenklempner, aber wisst ihr, was ich mir so denke?», fragte Cecil. «Ich glaube, dass Pat sich immer die Schuld an diesem Unfall gegeben hat. Ich meine, damals war sie allein mit Rebecca zu Hause. Sie sollte auf ihre kleine Schwester aufpassen. Aber kleine Mädchen entschlüpfen einem manchmal so leicht wie eine sich windende Schlange – es war nicht Pats Schuld, und keiner hat das je behauptet. Aber trotzdem, nach all diesen Jahren bietet sich nun also eine Gelegenheit, doch noch ein kleines Mädchen zu retten. Da greift Pat zu. Sie stürzt sich auf diesen Fall, als wäre das ihre Lebensaufgabe. Oder?»
Warren nickte.
Zwei Mädchen weg
, dachte Rhonda.
Cecil stand auf und wandte sich zum Gehen. «Als ich sie fand, hielt sie einen von Rebeccas kleinen Schuhen in der Hand. Einen blutverschmierten weißen Turnschuh.Den wollte sie einfach nicht loslassen.» Er setzte eine alte Baseballkappe der Freiwilligen Feuerwehr auf. «Verdammt schade», knurrte er.
Sie bedankten sich bei Cecil und sahen ihm nach.
«Kaum zu glauben, dass ich die Geschichte von Rebecca nie gehört habe», meinte Rhonda.
«Das ist schon lange her», erwiderte Warren. «Und sie gehört zu diesen Themen, über die man nicht spricht, so wie Krebs oder so. Ich
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